Gottesdienst im Dunkeln
Für eine Stunde blind sein
Charlotte Mattes08.07.2013 cm Artikel: Download PDF Drucken Teilen Feedback
Sanfte Musik ertönt aus den Lautsprechern der Kapelle. Pfarrer Rasmus Bertram lässt viele Augenblicke verstreichen, bis er seine Stimme erhebt. „Die Sonne scheint und ihr seid alle hier in der Kirche!“ Lächelnd begrüßt der Jugendpfarrer die jungen Frankfurter, die auf den Holzstufen der Kapelle sitzen. Noch schauen ihn elf Augenpaare erwartungsvoll an. Doch dieser Jugendgottesdienst soll kein normaler werden: Die jungen Erwachsenen können während des Gottesdienstes nur noch hören, aber nicht mehr sehen.
Minimalistischer Gottesdienst gibt Freiraum
Laut Pfarrer Bertram können sich die jungen Erwachsenen besser auf den Gottesdienst einlassen, wenn sie nicht die Möglichkeit haben, etwas zu sehen. Es ist ein Experiment. Pfarrer Bertram betont: „Hier wollte ich möglich wenig setzen. Von mir ist der Gottesdienst minimalistisch gehalten, damit bei Dir viel passieren kann“. Den eigenen Gedanken ohne Ablenkung nachsinnen können, das soll Ziel dieses Gottesdienstes sein.
Augenbinden lenken den Blick nach innen
Damit auch sicher keiner während des Gottesdienstes etwas sehen kann, verteilt der sympathische Pfarrer Augenbinden. Sobald alle die langen, karierten Stoffschnüre an ihrem Hinterkopf festgezogen haben, fordert Pfarrer Bertram auf es sich gemütlich zu machen: „Legt euch ruhig hin - am besten auf die Polster“.
Alle sind blind und strecken sich aus. Pfarrer Bertram setzt sich hinter seinen Laptop.
Die Gedankenreise beginnt
Wir sollen unsere Körper vom kleinen Zeh bis zu den Haarspitzen entspannen. Pfarrer Bertram beschreibt die Entspannung mit einer Flüssigkeit, die uns von unten bis oben ausfüllt. Sobald der Kopf gefüllt ist, verlassen wir unseren gelösten Körper. „Ich kann durch die Wände und Räume schweben - sehe wie die Welt kleiner und kleiner wird“, sagt Bertram und lässt uns davon fliegen. Er liest uns Geschichten vor. Wir treffen auf Caesar und Sokrates. Begegnen vielen verschiedenen Kulturen, besuchen ein Dorf, hören dort Kinder singen und spielen, ein Mädchen betet zu Gott. Wir begleiten Jesus zu seiner Mutter Maria. Begleiten ihm zu dem Grab von Lazarus.
Rockmusik und sphärische Klänge begleiten die Geschichten
Es gibt Pausen zwischen den Geschichten, sie werden von Klängen begleitet. Ruhige Stücke aber auch rockige Lieder erfüllen die Kapelle. Gegen Ende unserer gemeinsamen Reise erzählt Bertram, wie der Teufel Jesus in Versuchung bringen möchte Gott auf die Probe zu stellen. Doch Jesus lässt sich nicht verführen – er bleibt seinem Gott treu. Es folgt ein rockiges Lied. Das letzte für heute.
Das Licht blendet auf einmal
Bertram fordert uns auf zurückzukommen, mit unserem Geist wieder in unseren Körper zu schlüpfen, „wie in einen Schlafanzug“. Dann sollen wir unsere Arme und Beine bewegen, wieder „Herrscher über unsere Körper“ werden.
Wir nehmen die Augenbinden ab - nach einer Stunde in Dunkelheit müssen sich die Augen erst für einen Moment an die sonnendurchflutete Kapelle gewöhnen.
Gemeinsam und in ausgelassener Stimmung schlendern die jungen Frankfurter die Treppe hinab. Das Schöne: Die Gruppe trennt sich nach dieser neuen Erfahrung nicht, sondern geht zum gemeinsamen Brunch im angrenzenden „Sankt Peter CAFE“. Dort tauschen die jungen Erwachsenen ihre Eindrücke von dem „Gottesdienst mit verbundenen Augen“ aus.
Gemeinschaftlicher Brunch zum Abschluss
Stefan Zieringer, 24, resümiert: „Ich fand die meditativen Elemente interessant. Im normalen Gottesdienst kommt man nicht so zur Ruhe. Das ist entspannter – finde ich gut. Nur das Liegen ohne Kissen war anstrengend“. Viele stimmen ihm raunend zu. Dann ergreift Victoria Becht, 21, das Wort. Ihr war es „einen Tick zu esoterisch“ und sie ist der Meinung: „Ich muss nicht aus meinem Körper heraus, um Jesus zu begegnen. Er ist kein Gott, der weit weg ist.“
Insgesamt sind die Jugendlichen um eine Erfahrung reicher, weil es etwas Neues und Unbekanntes für sie war. Viele erwähnen, dass sie die Kombination aus Musik und Geschichten sehr gut finden. Allerdings empfanden einige der jungen Protestanten eine Stunde auf den Holzstufen als zu lang und unbequem und die Musikelemente waren häufig nicht nach ihrem Geschmack oder zu laut.
Joel Methorst, 24, hätte sich gewünscht mehr an die Hand genommen zu werden: „Ich fand die Idee interessant – ich hätte es aber anders gemacht. Mir hat der rote Faden gefehlt. Das würde ich ändern, eine Botschaft mitgeben, auch wenn man den Gedanken freien Lauf lassen wollte.“
Eine konkrete Botschaft hat der Pfarrer bewusst nicht gegeben. Er wollte den Gedanken Freiraum geben und findet: „Ein Gottesdienst ist nicht die Zeit, wo der Pfarrer sagt, was gesagt werden muss, sondern Zeit um die Begegnung mit Gott zu erfahren.“
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