Gedenken an Novemberpogrome
Macht Mut: Jugendliche unterschiedlicher Weltanschauungen räumen Vorurteile aus
Gerald Henseler/pixelio.deDer Offenbacher Schülersprecher Max Moses Bonifer hat den Rücktritt von seinem Amt verkündet. Er ist Jude und sagt, er wurde in der Innenstadt mit Mord bedroht .09.11.2014 rh Artikel: Download PDF Drucken Teilen Feedback
privatPfarrerin Anja Harzke engagiert sich für gesellschaftliche Integration in verschiedenen Bereichen: Als Projektleiterin des Patenschaftsmodells in Offenbach bringt sie Hauptschüler mit beruflich erfolgreichen Ehrenamtlichen zusammen - als Beauftragte für Interreligiösen Dialog fördert sie das Verständnis zwischen Angehörigen unterschiedlicher ReligionenRund 1.200 Synagogen und Gebetshäuser wurden in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 in Deutschland niedergebrannt. Über 30.000 jüdische Menschen wurden noch in dieser Nacht und in den darauffolgenden Tagen verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt. Die Botschaft der Novemberpogrome verdeutlicht Anja Harzke, die Pfarrerin für Ökumene und interreligiösen Dialog in Offenbach: „Wir dürfen Unrecht nicht hinnehmen, wenn Menschen schlecht behandelt werden, kollektiv zu Sündenböcken gemacht werden.“ Es sei unsere Aufgabe daran mitzuwirken, dass alle Menschen mit Respekt und Achtung behandelt werden.
Doch wieder werden antisemitische Beschimpfungen laut – auch auf dem Gebiet von Hessen und Nassau. Der Offenbacher Schülersprecher Max Moses Bonifer hat den Rücktritt von seinem Amt verkündet. Er erklärt die Gründe: „Grundsätzlich wurde oft gesagt `du blöder Jude´. Jetzt wurde ich mitten in der Innenstadt mit Mord bedroht. Schülerinnen und Schüler haben gesagt: Wir bringen dich und dein Volk um.“ In einem Interview macht Pfarrerin Harzke deutlich, dass diese Beschimpfungen furchtbar seien. Zudem zeigt sie Perspektiven aus ihrer praktischen Erfahrung auf, wie es tatsächlich gelingen kann, dass Jugendliche unterschiedlicher Religionen verständnisvoll und friedlich miteinander umgehen.
Welche Botschaft möchten Sie den Menschen am 9. November mitgeben?
Anja Harzke: Es ist unsere Aufgabe daran mitzuwirken, dass alle Menschen mit Respekt und Achtung behandelt werden – auch den Anderen und Fremden. Gerade wenn wir uns als Christinnen und Christen verstehen, ist uns doch der Satz „liebe deinen Nächsten, wie dich selbst“ ein großer Auftrag. Es ist immer wieder schwer das zu verwirklichen - aber wir sollen uns ein Leben lang darum bemühen. Und Einspruch erheben, wenn jemand neben mir mies behandelt wird.
Wie erinnert die evangelische Kirche an diese Geschehnisse?
Anja Harzke: In vielerlei Art und Weise! Am Sonntag wird wohl in fast allen evangelischen Gottesdiensten an die Reichspogromnacht gedacht und auch unsere Schuld als Kirche und Kirchen thematisiert. Es gibt vielerlei Gedenkgottesdienste, auch ökumenische, oder Gedenkveranstaltungen.
In Offenbach wird es einen besonderen Gottesdienst zur Reichspogromnacht geben, dazu werden etliche Kirchenvertreter an der Gedenkstunde mit Kranzniederlegung vor dem Rathaus und dann an der Gedenkfeier in der jüdischen Gemeinde teilnehmen. Eine Gemeinde beschäftigt sich schon seit längerer Zeit mit der Thematik der getauften Juden und hat dazu viele Jugendprojekte durchgeführt. Jugendliche an dieses Thema heranzuführen und die Erinnerung wach zu halten an diese Ereignisse und unsere Verstrickung darin, ist ein ganz wichtiges Anliegen. So ist es fester Bestandteil des Konfirmandenunterrichtes und natürlich des Religionsunterrichtes an den Schulen. Hier ist auch Raum darüber zu reden, wie junge Menschen heute damit umgehen können und dass es keineswegs Schnee von gestern ist, an den 9. November 1938 zu erinnern.
Antisemitische Äußerungen werden heute wieder laut. In Offenbach will der Stadtschülersprecher Max Moses Bonifer sein Amt als Stadtschülersprecher niederlegen, weil er mit dem Tode bedroht wurde – mutmaßlich von muslimischen Schülern, die er auch vertritt. Wie haben Sie diese Nachricht aufgenommen?
Anja Harzke: Ich habe davon aus der Presse erfahren. Inzwischen habe ich mit vielen Menschen darüber gesprochen. Solche Beleidigungen und Beschimpfungen sind furchtbar und dürfen nicht sein. Kein Mensch darf wegen seiner Religionszugehörigkeit beleidigt oder angefeindet werden. Allerdings sind die Vorwürfe von Max Moses Bonifer gegen die Integrationsbemühungen in Offenbach recht pauschal. Es irritiert etliche Menschen, dass er mit keiner Person oder der jüdischen Gemeinde oder Gremien darüber gesprochen hat, sondern nur über die Presse ging und auch seine Kollegen des Stadtschülerrates zeigten Verwunderung, das aus der Zeitung zu erfahren.
[Anmerkung der Redaktion: Nach den ersten Presseberichten sagte Bonifer gegenüber der Multimedia-Redaktion der EKHN: „Ich sage nicht, dass nichts getan wird von der Stadt, klar es gibt viele Bemühungen. Aber es reicht nicht aus, es gibt hier akuten Antisemitismus.“]
Was tun die Kirchengemeinde und das Dekanat, um antisemitischen Vorfällen Einhalt zu verhindern?
Anja Harzke: Wie bereits gesagt, gehen Pfarrerinnen und Pfarrer und Mitarbeiter in der Jugendarbeit intensiv auf das Thema Judentum und Anitsemitismus im Konfirmandenunterreicht, Religionsunterreicht und in Gedenkgottesdiensten etc. ein. Dazu gibt es auch hier in Offenbach eine intensive interreligiöse Arbeit. Als Pfarrerin für interreligiösen Dialog ist genau das meine alltägliche Arbeit: Rundgänge zu Moscheen, Kirchen und Synagogen anzubieten und interreligiöse Frauentage. Wir haben einen Interreligiösen Runden Tisch, wo ebenfalls die drei großen Religionen seit Jahren gut zusammenarbeiten. Daraus ist ein Vertrauen entstanden, das nur durch langjährige Beziehungsarbeit entsteht.
Als letztes Jahr der Rabbiner verbal von Jugendlichen angegangen wurde, haben wir als evangelisches Dekanat innerhalb von wenigen Tagen eine Mahnwache organisiert an der 300 Menschen teilnahmen mit vielen Politikern, Gewerkschaften, und Mitgliedern etlicher Moscheegemeinden, Kirchengemeinden und der des Rabbiners. Zwei Imame haben sich klar dafür eingesetzt, dass niemand wegen seiner Religion beleidigt oder beschimpft werden darf. Als sich der Vorsitzende des Ausländerbeirates bei dem Rabbiner offiziell entschuldigte, war das sehr bewegend und auch ein Ergebnis von langjähriger Vertrauensarbeit.
In wenigen Tagen fahre ich mit einer Gruppe von Juden, Muslimen und Christen aus Offenbach nach Israel - zum ersten Mal wohl in dieser Besetzung. Genau darum geht es doch: In der täglichen Begegnung sich kennen zu lernen und zu verstehen, dass der Andere anders ist und glaubt und auch andere Ansichten hat - und ihn trotzdem zu respektieren.
Wie erleben Sie die Integrationspolitik in Offenbach?
Anja Harzke: Ich erlebe sehr große Anstrengungen und Bemühungen in der Integrationspolitik und sehr viele gute Projekte in Offenbach, die das Zusammenleben fördern und unterstützen. Das sieht übrigens der Ausländerbeirat sowie die jüdische Gemeinde genauso. Wenn Sie bedenken, dass Offenbach bundesweit die Stadt mit dem höchsten Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund ist, dann klappt das Zusammenleben hier sehr gut. Was mich an den Reaktionen stört ist, dass es wieder einmal zu einem „Offenbach-Bashing“ führt. Solche Vorkommnisse gibt es leider in allen Städten. Es gibt einen gewissen Prozentsatz an muslimischen Jugendlichen, die antisemitische Vorurteile haben, und die gibt es ebenso in Frankfurt und Darmstadt. Und das ist nicht nur bei muslimischen Jugendlichen so, das muss man auch anmerken. Oft geht es auch um blöde Sprüche. Da müssen wir ansetzen und Bildungsangebote für diese Kids machen. Und nicht Offenbach wieder als „Ghetto“ hinstellen - das ist zu einfach und bequem.
Was sind Ihre Forderungen an die Politik und andere Verantwortliche?
Anja Harzke: Die antisemitischen Haltungen ernst nehmen und spezielle Programm für Jugendliche anbieten über gegenseitige Vorurteile. Die Religionen mit einbinden - ein guter Religionsunterricht ist genau der Ort um diese Themen aufzugreifen und zu bearbeiten. Da ist auch ein guter muslimischer Religionsunterricht eine große Hilfe. Leider sind etliche Menschen der Auffassung, Religion als von vorgestern abzutun und aus den Schulen heraus zu drängen. Das ist genau der falsche Weg. Hier ist der Raum und die Zeit ist darüber zu sprechen. Religion zu verschweigen oder abzutun, ist sicherlich keine Lösung.
Ich denke an den Interreligiöse Religionsunterreicht an der Theodor-Heuss-Schule in Offenbach. Wenn Sie da mal dabei waren und mit den Jugendlichen der drei Religionen und ebenso atheistischen Jugendlichen gesprochen haben, die betonen, dass sie jetzt verstanden hätten, was der andere eigentlich glaubt und was ihm wichtig ist, der kann nur tief beeindruckt sein. Hier werden die Unterschiede keineswegs verneint, sondern sie führen zu gegenseitigem Verständnis und Respekt- endlich können sie mal ausdrücken, an was sie glauben und an was nicht. Mit pauschalen Urteilen ist dann ganz schnell Schluss. So etwas wünsche ich mir flächendeckend.
Gibt es ein Element in der jüdischen, christlichen und muslimischen Religion, das dazu ermutigt, Feindbilder in den Köpfen aufzulösen und bereit für respektvolle Begegnungen zu sein?
Anja Harzke: Diese Elemente gibt es in allen drei Religionen. Man muss ihnen auf die Spur kommen und auch darüber reden. Auch dafür wäre solch ein Religionsunterricht wie an der Theodor-Heuss-Schule ideal. In meinen vielen Begegnungen mit Muslimen und Juden habe ich immer und immer wieder erfahren, wie wichtig den Menschen ein gutes und friedliches Zusammenleben ist und wie sehr sie Menschen schätzen, die auch glauben. Es verbindet uns so viel als abrahamische Religionen, als Menschen, die an Gott glauben. Alle drei Heilige Schriften sprechen davon, dass das Leben heilig ist, die 10 Gebote verbinden uns ebenso. Miteinander ins Gespräch kommen und sich kennen zu lernen - als Menschen nicht als Religionen - ist ein ganz wichtiger Schritt.
Vielen Dank für das Gespräch!
Die Fragen stellte Rita Deschner
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