Sprache
„Postfaktisch“ ist das Wort des Jahres 2016
Esther Stosch„Postfaktisch“ ist das Wort des Jahres 2016.09.12.2016 epd/red Artikel: Download PDF Drucken Teilen Feedback
Das Wort des Jahres 2016 lautet „postfaktisch“. Nach „Flüchtlinge“ im vergangenen Jahr entschied sich die Jury der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) diesmal für einen eher akademisch geprägten Begriff. Er spiegelt in ihren Augen eine bedenkliche Entwicklung in Politik und Gesellschaft wider: dass Fakten immer weniger, Emotionen dagegen eine um so größere Rolle spielen. Auf den zweiten Platz kam bei der Wahl der Juroren „Brexit“ für das britische Votum zum Ausstieg aus der Europäischen Union und auf den dritten „Silvesternacht“ für die sexuellen Übergriffe in Köln und anderen Städten am Jahreswechsel.
„Fakten und die ernsthafte Suche nach Lösungen spielen in öffentlichen Debatten immer weniger eine Rolle“, sagt Kirchenpräsident Volker Jung. „Stattdessen dominieren unbewiesene Behauptungen, Stimmungen und Gefühlslagen.“ Jung geht über diese Beschreibung des Wortes hinaus und ergänzt: „Manche reden inzwischen sogar vom ‚Kontrafaktischen‘, weil immer wieder Behauptungen bewusst gegen die Wirklichkeit gesetzt werden.“
„Es geht um die Zukunft unserer Demokratie“
Diese Entwicklung sei „sehr problematisch“. Der Kirchenpräsident erinnert an das 8. Gebot „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten!“ und ist überzeugt: „Hier ist viel Aufmerksamkeit von uns allen gefragt. Die Medien haben eine besonders wichtige Funktion. Sie müssen Fakten prüfen, aufdecken und richtigstellen und nicht der Fraktion der ‚Postfaktiker‘ einfach auf den Leim gehen.“ Es gehe bei allen um „die Zukunft unserer Demokratie“. Denn die Demokratie ist darauf angewiesen, „dass nicht aus Gefühlslagen und Stimmungen heraus entschieden wird“. Jung betont: „Demokratische Entscheidungen brauchen Sachorientierung und kritisch abwägende Diskussionsprozesse.“
Bereitschaft Tatsachen zu ignorieren und Lügen zu akzeptieren
Seit 1977 kürt die GfdS alljährlich Wörter oder Wendungen, die das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben eines Jahres in besonderer Weise bestimmt haben. Das Kunstwort „postfaktisch“ geht auf den amerikanisch-englischen Begriff „post truth“ zurück. Die aus drei Sprachwissenschaftlern, einem Juristen und einem ehemaligen ZDF-Redakteur bestehende Jury schrieb zur Begründung: „Immer größere Bevölkerungsschichten sind in ihrem Widerwillen gegen ‚die da oben‘ bereit, Tatsachen zu ignorieren und sogar offensichtliche Lügen bereitwillig zu akzeptieren.“
Bedenkliche gesellschaftliche Entwicklung
Der Vorsitzende der Gesellschaft für deutsche Sprache, Peter Schlobinski, verwies bei der Vorstellung der Wörter des Jahres darauf, dass der künftige US-Präsident Donald Trump seinen Wahlkampf zu 70 Prozent mit Lügen bestritten habe. Auch bei deutschen Landtagswahlen hätten Parteien gut abgeschnitten, „die es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen“, fügte der an der Universität Hannover lehrende Sprachwissenschaftler hinzu, ohne die AfD namentlich zu erwähnen. Er sprach von einer bedenklichen gesellschaftlichen Entwicklung. „Nicht der Anspruch auf Wahrheit, sondern das Aussprechen der ‚gefühlten Wahrheit‘ führt im postfaktischen Zeitalter zum Erfolg“, schrieb die Jury.
Postfaktisch auch internationales Wort des Jahres
„Postfaktisch“ war zuvor auch schon zum „Internationalen Wort des Jahres“ gekürt worden, das die britische Wörterbuchreihe Oxford Dictionaries auswählt. Schlobinski räumte ein, dass der Begriff bislang noch keinen Eingang in die deutsche Umgangssprache gefunden hat. Beim Wort des Jahres gehe es aber nicht um die Häufigkeit des verwendeten Begriffs, sondern um das Widerspiegeln gesellschaftlicher Entwicklungen in der betreffenden Zeit. Die Entscheidung der Jury sei im Übrigen einstimmig gefallen, was selten vorkomme.
Wort charakterisiert politischen Wandel
Schlobinski wagte die Prognose, es werde nicht lange dauern, bis sich „postfaktisch“ auch im Duden wiederfinde. Das Wort charakterisiere schließlich einen tiefgreifenden politischen Wandel. Es ist erst das zweite Mal, dass die GfdS ein Adjektiv zum Wort des Jahres bestimmte. Zuvor hatte es nur „aufmüpfig“ auf den ersten Platz geschafft - bei der ersten Kür eines Jahresworts 1971. Sonst kamen immer Substantive oder eine Gruppe von Substantiven zum Zug. Die Geschäftsführerin der Gesellschaft, Andrea-Eva Ewels, erinnerte daran, dass auch der Begriff „Wutbürger“ als Wort des Jahres 2010 zuvor wenig gebräuchlich war, dann aber Eingang auch in die Umgangssprache gefunden habe.
Neben den Wörtern des Jahres kürt Anfang Januar eine Jury mit Sitz an der Technischen Universität Darmstadt das „Unwort des Jahres“. Diese 1991 begründete Aktion möchte den Blick auf Wörter und Formulierungen lenken, „die gegen die sachliche Angemessenheit oder Humanität verstoßen“. Im vergangenen Jahr lautete das Unwort „Gutmensch“.
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