Integration in der Schule
Sind wir vorbereitet? Flüchtlinge drücken die Schulbank
Jakob DettmarFortbildung im Klassenzimmer: Wie können Flüchtlinge erfolgreich unterrichtet werden?09.10.2015 red Artikel: Download PDF Drucken Teilen Feedback
Ein gutes dutzend gestandene Lehrer und Sozialpädagogen sitzen auf viel zu kleinen Stühlen an viel zu kleinen Tischen - in einem Klassenraum einer Grundschule. An der Wand hängt das Alphabet in Schreibschrift, auf den Tischen liegt Kinderspielzeug. Eine erstaunliche Situation für eine Fachtagung. Aber sie ist passend: Denn Geflüchtete drücken oft als junge Erwachsene nach ihrer Ankunft in Deutschland die Schulbank. Dann fangen sie oft ganz von vorne an: Deutsch lernen, Mathe pauken und Fächer wie „Arbeit, Wirtschaft, Technik“ kennen lernen. Michael Stenger hat sich genau darauf spezialisiert: Wie kann man eine Schule gestalten, die der Situation und dem Alter junger Geflüchteter gerecht wird? Und die gleichzeitig im Schnellprogramm für die Prüfung an deutschen „Regelschulen“ fit macht?
„Es gibt keine passenden Schulbücher für Flüchtlinge“
Das ist auch das Thema dieses „Denkraums“, wie sich die Diskussionsveranstaltungen im Rahmen der Fachtagung „Integration bewegt“ nennt. Dazu hatte der evangelische Regionalverband, die EKHN-Stiftung und die Stadt Frankfurt am 6. Oktober 2015 eingeladen. 350 Fachleute sind der Einladung gefolgt - rund um die Kirche St. Peter haben sie sich ausgetauscht. Der ganze Tag war voll gepackt mit Vorträgen, „Denkräumen“ und Podiumsdiskussionen - Michael Stenger ist einer der Referenten. Er ist Vorstandsvorsitzender des Trägerkreises „Junge Flüchtlinge e.V.“ und hat die SchlaU-Schule aufgebaut. SchlaU, das bedeutet „Schulanaloger Unterricht für junge Flüchtlinge“. In einem alten Versicherungsgroßraumbüro in der Nähe von München werden hier rund 220 junge Geflüchtete unterrichtet. Das Konzept: Es gibt keine festen Klassenverbände, je nach Lerngeschwindigkeit können sich die einen mehr und die anderen weniger Zeit nehmen. Und es gibt nur rund 15 Schüler pro Lerngruppe. Auch der Lehrplan unterscheidet sich: Was die Regelschule in neun Jahren vermittelt, muss die SchlaU-Schule in zwei bis drei Jahren schaffen. Dann schreiben die Schüler ihre Abschlussarbeiten - auf der „normalen“ Regelschule. „Es wurde verschlafen, dass wir ein Einwanderungsland sind: Es gibt für Flüchtlinge keine spezifischen Schulbücher, es gibt gar nichts für sie, weil sie nie vorgesehen waren“, sagt Michael Stenger.
„Deutsch als Fremdsprache“ ist Fach der Zukunft
Jemandem Mathe beibringen, ohne dass er Deutsch kann? Das geht. Genau deswegen hat Stenger ein Konzept entwickelt, über Jahre: Es werden nur Lehrer eingestellt, die „Deutsch als Fremdsprache“ studiert haben - dieses Fach gebe es aber bisher nur an sieben deutschen Universitäten, „obwohl das seit 25 Jahren ein Fach der Zukunft ist“, sagt Stenger. Dazu kommt eine hohe sozialpädagogische Betreuung: Denn wer als Lehrer weiß, dass es einem Schüler schlecht geht, weil beispielsweise seine Familie gerade abgeschoben wird, kann viel sensibler damit umgehen. „Und wenn sich ein Flüchtling wahrgenommen fühlt, dann erfährt er eine hohe Wertschätzung“. Und auch die Lehrer müssen emotional gewappnet sein: Immer wieder fallen junge Kriegsgeflüchtete in ihre Traumata zurück - „das sind schon happige Begegnungen, damit muss man umgehen können“. Und die Schule kümmert sich auch um die Kommunikation mit dem Ämtern: „Wir hatten noch nie ein Abschiebung“, erzählt Stenger - im Zweifelsfall hat er schon Schüler mit Presse und Politikern aus dem Flugzeug geholt. Das gebe den Schülern Sicherheit und ermögliche damit auch eine entspannte Lehrsituation.
Wie schafft man Teilhabe an der Gesellschaft?
Genau so entscheidend wie der Unterricht sind aber die vielen Kooperationen: mit Sportvereinen, anderen Schulen, Kultureinrichtungen wie den Kammerspielen, Ein-zu-Eins-Nachhilfe mit Ehrenamtlichen. All das soll die Teilhabe an der Gesellschaft garantieren - auch damit Absolventen später im Berufsleben Fuß fassen können. Dafür gibt es Jobmessen, Praktika und die Alumni erzählen ihren Nachfolgern, wie sie sich in deutschen Unternehmen zurechtgefunden haben, welche Jobs gescheit sind und welche nicht. „Diese Verbindung von inklusorischen Maßnahmen außerhalb des Klassenzimmer zusammen mit schnellem Deutschlernen im Klassenzimmer - ich kenne keine höhere Form der Inklusion.“
Geflüchtete sollen in die Schule gehen können - von Anfang an
Ganz wichtig ist Stenger auch, dass Geflüchtete sofort nach der Ankunft in die Schule kommen: „Das ist auf alle Fälle besser als verzweifelte Menschen, die Jahre lang nichts lernen durften, die im Lager lebten, die kein Wort Deutsch lernen konnten, nur um dann abgeschoben zu werden“. In der SchlaU-Schule darf grundsätzlich jeder Geflüchtete anfangen, egal welchen Status er hat, denn diesen „unmenschlichen Fehler der Gegenseite“ möchte Stenger nicht machen. Und er will direkt eine Situation auf Augenhöhe schaffen: In der Schule gibt es keine Hausordnung, sondern die Schüler setzen ihre eigene Unterschrift unter einen Vertrag. „Denn Augenhöhe kommt erst zustande, wenn ich die Eigeninitiative und die Eigenverantwortung ermögliche“, sagt Stenger.
Der Staat soll handeln: Mehr Aus- und Fortbildung für Lehrer
Das Problem ist: Für Situationen mit geflüchteten Schülern werden Lehrer nicht ausgebildet. Stengers Verein „Junge Flüchtlinge“ setzt deswegen auf Fortbildungen: Er will die Erfahrungen an der SchlaU-Schule an Lehrer und Sozialpädagogen weitergeben. Wie dieser Austausch noch statt finden kann, das diskutieren auch die Teilnehmer im „Denkraum“ der Frankfurter Fachtagung. Auch in Frankfurt gibt es mittlerweile mehrere Modellschulen, die spezielle Klassen für Geflüchtete anbieten, mit sozialpädagogischer Betreuung. Die Konzepte haben viele Parallelen zu Stengers Arbeit. Aber zwei Stunden pro Woche und Klasse seien ein Tropfen auf den heißen Stein, klagt ein Sozialpädagoge - „ich kenne nach zwei Wochen nicht einmal die Namen“. Auch Stenger fordert: Das Thema Geflüchtete in der Schule müsse vom Staat und auch in der Lehrerausbildung an den Universitäten stärker in die Hand genommen werden.
[Jakob Dettmar]
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