Dekanat Rodgau

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    Interview

    Syrische Christen auf der Flucht

    Lukkar/istockphoto.com

    Der Verbindungsreferent für Nahost Dr. Uwe Gräbe und die interreligiöse Beauftragte Susanne Faust Kallenberg im Gespräch über die Lage in Syrien.

    Das Land, in dem sich heute Regimegegner und Rebellengruppen unversöhnlich gegenüber stehen, gehört zu den ältesten Orten der Christenheit. In einigen Orten in Syrien sprechen noch heute die Menschen Aramäisch, die Sprache Jesu. Darauf weist Dr. Uwe Gräbe im Interview am 6. August 2012 hin. Er ist der Verbindungsreferent für Nahost des EMS (Evangelische Mission in Solidarität), zu dessen Mitgliedern die EKHN gehört. Mit Susanna Faust Kallenberg, der interreligiösen Beauftragten der EKHN, macht er auf die Folgen des aktuellen Krieg für die Christen vor Ort aufmerksam: Es gibt eine dramatische Auswanderung aus vielen Ländern des Nahen Ostens, zu denen auch Syrien gehört. Faust Kallenberg macht dabei deutlich, dass dadurch vor allem die gut Ausgebildeten die Region verlassen. Der Libanon ist eines der Ländern, in dem die Menschen Zuflucht suchen. Deshalb engagiert sich das EMS dafür, syrischen Flüchtlingskindern zu helfen.

    Sind Sie mit Christen aus Syrien in Kontakt?

    Susanne Faust Kallenberg: Über die Near East School of Theology gibt es Beziehungen zu syrischen Pfarrern und Einzelpersonen. Bei meinem gestrigen Telefonat (31. Juli) mit dem Präsident der Near East School of Theology, George Sabra, drückte dieser seine Sorge über die Christen in Aleppo aus. Aleppo gehört zu den Städten mit einer verhältnismäßig hohen Anzahl an Christen. Der Kontakt ist immer wieder unterbrochen. Deutlich wurde, dass die Christen in Syrien im Moment sehr vorsichtig sind. Sie versuchen eine politisch neutrale Position einzunehmen. Alles, was sie irgendwie entweder mit der Regierung oder mit der Opposition direkt in Verbindung bringt, wird so weit wie möglich vermieden. Das betrifft auch die Annahme von materieller oder finanzieller Unterstützung. Dies ist jedoch nur eine Stimme und die kommt aus dem Libanon aus zweiter Hand.

    Dr. Gräbe, Sie sind mit Libanesen in Kontakt, die syrische Flüchtlinge aufgenommen haben. Was berichten sie über die Situation der Flüchtlinge?

    Uwe Gräbe: Als Evangelischer Verein für die Schneller-Schulen (EVS) und Evangelische Mission in Solidarität (EMS) stehen wir in engem Kontakt zu unseren libanesischen Partnern, der Johann-Ludwig-Schneller-Schule (JLSS) in der Bekaa-Ebene und der Trägerkirche dieser Schule, der Nationalen Evangelischen Kirche (NEC) in Beirut. Unsere Partner im Libanon berichten uns, dass die Menschen, die aus Syrien geflohen sind, nur sehr langsam ihre Situation realisieren. Die meisten von ihnen würden sich gar nicht als „Flüchtlinge“ bezeichnen. Sie gehen zunächst davon aus, dass sie nur für kurze Zeit im Libanon sein werden und schon bald wieder in die Heimat zurückkehren können. Viele sagen, dass sie einfach nur auf einen „Besuch bei Verwandten und Freunden“ in den Libanon gekommen sind und in ein paar Wochen wieder nach Syrien zurückkehren werden, wenn dort das Schlimmste vorbei ist. Und es stimmt ja auch: Es gibt Verwandtschaftsbeziehungen kreuz und quer über die Grenze hinweg, und Verwandtenbesuche sind nichts Unübliches.

    Kann diese Verwandtschaftshilfe auch an Grenzen kommen?

    Gräbe: Wenn in bestimmten Gegenden des Libanon plötzlich jeder nur verfügbare Platz mit „Verwandten und Freunden“ aus Syrien belegt ist; wenn Menschen beginnen, auf der Straße zu leben; wenn das Geld nicht mehr für das Notwendigste reicht – dann realisieren die Betroffenen langsam, dass die Situation doch alles andere als „normal“ ist. Und an diesem Punkt stehen wir jetzt. So hat sich die JLSS entschieden, gleich nach den Sommerferien Kinder aus diesen syrischen Familien in ihrem Internat aufzunehmen: ihnen Unterkunft, Nahrung und Schulunterricht zu geben. George Haddad, der Leiter der Schule, sagte mir neulich: „In der Tradition Johann Ludwig Schnellers nehmen wir alle Kinder auf, die in Not sind. Ganz egal, was der religiöse oder politische Hintergrund ihrer Familien ist.“

    Was haben die Flüchtlinge Ihnen über ihre Lage berichtet?

    Gräbe: Da wird – soweit ich das von Deutschland aus überhaupt beurteilen kann - sehr wenig drüber gesprochen. Man muss verstehen, dass diese Menschen zum großen Teil traumatisiert sind. Und angesichts einer ungewissen Zukunft möchten sie sich auch nicht selbst in Gefahr bringen, indem sie Schlechtes über die eine oder andere Seite in diesem Konflikt berichten.

    Wie sind Christen durch die zunehmende Gewalt des Konfliktes betroffen?

    Faust Kallenberg: Allgemein hat der sogenannte arabische Frühling, die mit ihm verbundenen politischen Umwälzungen und das Erstarken der sunnitischen Extremisten dazu geführt, dass viele Christen den Nahen Osten verlassen. Das gilt auch für Syrien. Viele Christen haben ein gutes Kontaktnetz im westlichen Ausland entweder in Europa, den USA oder Kanada - und eine gute Ausbildung. Die Auswanderung und die Integration fällt ihnen leichter, als den oft schlechter ausgebildeten und nicht so gut vernetzten muslimischen Flüchtlingen. Für die Kirchen bedeutet das, dass sie systematisch ihrer jungen gut ausgebildeten Mitglieder beraubt werden.

    Gräbe: Alle Bevölkerungsgruppen sind von dieser Eskalation betroffen. Krieg und Gewalt stellen immer eine Unrechtssituation für die Zivilbevölkerung dar. Neben der sunnitischen Mehrheit und der alawitischen Minderheit, welche die gegenwärtige Regierung stellt, gibt es in Syrien Christen, Kurden, (schiitische) Ismaeliten und andere Schiiten. Das sind teilweise recht starke Minderheitsgruppen – die Christen stellen immerhin zehn Prozent der Bevölkerung – und es ist noch gar nicht abzusehen, wie sich der Konflikt letztlich auf diese Gruppen auswirken mag. Nur eins ist offensichtlich: Bereits jetzt gibt es eine dramatische christliche Abwanderung aus vielen arabischen Ländern des Nahen Ostens. Ein solcher christlicher Exodus ist nun auch aus Syrien zu befürchten. Und dies ist tragisch, weil hier altes christliches Kernland betroffen ist: In Orten wie Ma‘aloulah und Sednayer (in der Nähe von Damaskus) sprechen die Menschen noch heute Aramäisch, die Sprache Jesu. In der Apostelgeschichte lesen wir, dass der Begriff „Christen“ erstmals überhaupt im Gebiet des heutigen Syrien verwendet wurde. Und in Damaskus wird bis heute das Haus des Hananias gezeigt, der den Apostel Paulus getauft hat. Wenn solche Orte ihre alte, einheimische christliche Bevölkerung verlieren, dann kann das die weltweite Christenheit nicht unberührt lassen. Es ist wie eine Amputation am Leib Christi.

    Radikale Islamisten sollen Oppositionsgruppen gegen Christen aufhetzen, so dass es zu Gewalttaten und auch Morden kommen soll. Was haben Sie diesbezüglich erfahren?

    Faust Kallenberg: Die Situation ist relativ schwierig zu durchschauen. Tatsache ist, dass die Regierung Assads das Misstrauen zwischen den Religionsgemeinschaften gezielt geschürt hat, um so aus einem Widerstandskampf gegen das Regime einen Religionskrieg zu machen. Berichte von der Ausgabe von Waffen durch die Regierung an die Angehörigen bestimmter religiöser Minderheiten schon im Frühjahr 2011 zeigen, dass das Regime schon früh die Weichen für einen Krieg entlang religiöser Linien gestellt hat.

    Gräbe: In Kriegssituationen lässt sich der Wahrheitsgehalt der in der Regel sehr subjektiven Berichte nur schwer überprüfen. Natürlich machen sich Christen in Syrien große Sorgen um ihre Zukunft, falls nach dem Sturz Assads eine islamistische Regierung an die Macht kommen sollte. Momentan kann man nur sagen, dass es auf allen Seiten des Konfliktes zu Gräueltaten kommt – je länger dieser Konflikt andauert, umso mehr. Es bestätigt sich hier wieder einmal, dass es keinen „sauberen Krieg“ gibt.

    Bei welchen gesellschaftlichen Gruppen in Syrien – außer der den Befürwortern der bisherigen Regierung – können die Christen Unterstützung finden?

    Faust Kallenberg: Wenn überhaupt, dann wohl am ehesten bei den Gruppen, die für ein säkulares religionsneutrales demokratisches Regierungssystem stehen. Allerdings stellt sich hier meiner Einschätzung nach die Frage, inwieweit man den Christen nicht im Nachhinein ihre Solidarität und ihr Stillschweigen gegenüber dem Unrechtsstaat zum Vorwurf machen wird.

    Welche Hilfe erhalten betroffene Familien?

    Gräbe: Die Länder, in denen die meisten Flüchtlinge ankommen, sind keine reichen Länder. Konkret kann ich nur über den Libanon sprechen: Der Libanon hat selbst lange Kriegsjahre hinter sich, und seine Bevölkerung ist tief gespalten. Für die Libanesen ist es unglaublich kräftezehrend, die eigene Gesellschaft irgendwie zusammenzuhalten. Da sind einfach keine Kräfte frei, auch noch umfassende Hilfe für eine so große Zahl an Flüchtlingen zu schaffen. Man hilft sich im kleinen Rahmen – eben im weitreichenden Familienverband und unter Freunden. Doch diese Hilfe reicht natürlich nicht. Deswegen ist es so wichtig, dass die JLSS jetzt Flüchtlingskinder in ihrem Internat aufnimmt – ganz unabhängig vom politischen oder religiösen Hintergrund dieser Familien. Dabei sollten wir die Schule von ganzem Herzen unterstützen! Der EVS und die EMS bitten um Spenden, damit die Schwächsten unter den Flüchtlingen, nämlich die Kinder, ein liebevolles Heim, gute Betreuung und eine Erziehung erhalten, die letztlich dem Frieden dient.

    Christen sollen eher auf Seiten des Regimes stehen. Welchen Eindruck haben Sie?

    Gräbe: Ein guter Freund von mir, der selbst christlicher Araber ist, sagte mir einmal: „Verachtet doch nicht unseren Wunsch, zu überleben!“ Im bequemen Europa haben wir es leicht, darüber zu urteilen, wo überall auf der Welt Christen deutlicher gegen Menschenrechtsverletzungen aufstehen sollten. Und natürlich wäre es ein starkes Zeichen gewesen, wenn auch Christen vor Ort deutlicher Position gegen die Menschenrechtsverletzungen durch das Regime Assad bezogen hätten. Aber seit Christen im Orient in der Minderheit sind, müssen sie immer sehr behutsam danach schauen, welche Mächte bereit sind, ihr Überleben zu garantieren und für sie einzutreten. Auf solche „Schutzmächte“ zu verzichten, wäre vielfach selbstmörderisch gewesen. Und nun ist da mit dem Regime Assad eine „Schutzmacht“, die den Christen nicht nur einen „Schutzbürger-Status“ als „Dhimmis“ zuweist, sondern ihnen – auf säkularer Grundlage – so etwas wie formale Gleichberechtigung zugesteht. Das ist nicht zu unterschätzen: In diesem Rahmen war nicht nur das Überleben, sondern eine große Breite an Entfaltungsmöglichkeiten garantiert!

    Welche Position vertreten die Christen in Syrien?

    Gräbe: Der jüngste Appell von Patriarch Ignatius IV von Antiochien ist einmal mehr von solcher Behutsamkeit geprägt: es ist ein leidenschaftlicher Appell zum Zusammenleben und Miteinander von Christen und Muslimen, und wir können nur beten, dass dieses Zusammenleben in Zukunft wieder gelingt.

    Auf alle Fälle sollten wir uns davor hüten, vorschnell über unsere christlichen Geschwister in Syrien zu urteilen. Auch in diesem Sinne möchte ich das oben von mir zitierte Gebet des Heiligen Efrem verstanden wissen. Denn oft sehen wir den sprichwörtlichen Splitter im Auge unseres Bruders, während wir den Balken im eigenen Auge nicht wahrnehmen: Wie viele despotische Regime wurden von Staaten des Westens, die ja auch auf einer christlichen Grundlage stehen, in der Vergangenheit aus wirtschaftlichen oder weltpolitischen Gründen unterstützt – oder erfahren diese Unterstützung gar weiterhin? Fragen wir uns da immer, welche Auswirkungen das auf unsere Geschwister in den betroffenen Ländern hat? Ich denke, dass uns ein bisschen Bescheidenheit gut zu Gesicht stehen würde.

    Andere arabische Staaten haben die größten gewaltsamen Auseinandersetzungen des arabischen Frühlings bereits hinter sich, wie beispielsweise Ägypten. Wie ist die Situation der Christen nun danach?

    Faust Kallenberg: In Ägypten haben anders als in Syrien junge Muslime und junge Christen entgegen den Ratschlägen der Kirchenvertreter gemeinsam für eine Revolution gekämpft. Es gibt viele Bilder, auf denen Christen und Muslime gemeinsam demonstrieren. Aber dadurch, dass Muslimbrüdern und Salafisten die Mehrheit im Parlament und auch den Präsidenten stellen, ist eine Gruppe an der Macht, die ein traditionelles islamisches Staatssystem in Ägypten errichten möchte. In diesem hätten die Christen zwar ein Existenzrecht, dieses wäre jedoch eingeschränkt.

    Welche Rolle spielen die Christen beim Aufbau eines neuen Gesellschaftssystems in Ägypten?

    Faust Kallenberg: Tatsächlich nehmen einzelne Führer christlicher Kirchen an der Entwicklung einer neuen ägyptischen Verfassung teil. So ist z.B. der Kirchenpräsident aller evangelischer Kirchen Mitglied eines entsprechenden Ausschusses. Im Moment wird in diesem Ausschuss darüber diskutiert, ob in der zukünftigen Verfassung ein Schariabezug formuliert werden soll und was dieser für die Christen bedeutet. Bisher gab es in der ägyptischen Verfassung einen entsprechenden Bezug, der jedoch den christlichen Kirchen gestattete, in Bezug auf das Familienrecht ihre eigenen Regelungen zu treffen. Die christlichen Führer kämpfen nun darum, dass das auch weiterhin so bleiben wird.

    Können die Christen in Ägypten gleichberechtigt und in Sicherheit leben?

    Faust Kallenberg: Je nachdem wen man fragt, wird man unterschiedliche Antworten bekommen. Christen dürfen z.B. keine Mission betreiben, sie bekommen Schwierigkeiten, wenn sie einen muslimischen Partner heiraten wollen. Das gilt besonders wenn die Braut muslimisch ist. In vielen Fällen konvertiert der christliche Partner. Christen tragen Angaben zu ihrer Religionszugehörigkeit in ihrem Pass, sind somit jederzeit als Christen erkennnbar.

    Bisher geht von der Regierung selbst keine konkrete Gefahr aus, anders ist dies jedoch innerhalb der muslimischen Mehrheitsgesellschaft. Da kommt es öfter zu Zusammenstößen, zumal gerade orthodoxe Kopten ein starkes Nationalbewusstsein haben. Sie sehen sich als die eigentlichen Besitzer des Landes und als Erben der Pharaonen, im Gegensatz zu den Muslimen, die sie als Zugewanderte betrachten.

    In der Vergangenheit hat das Mubarakregime die Konflikte zwischen Christen und Muslimen geschürt, um so von sich selbst abzulenken.

    Können Sie Beispiele nennen?

    Faust Kallenberg: Die erlebt der Einzelne im tagtäglichen Alltag. Wenn er in einem islamischen Krankenhaus, zwar als Arzt arbeiten darf, jedoch immer die Nachtschicht übernehmen muss. Oder wenn muslimische Schüler einen christlichen Schüler dazu zwingen wollen, sein Kreuz auszuziehen. Oder wenn ein muslimischer Bürgermeister in einer mehrheitlich muslimischen Stadt glaubt, an Popularität zu gewinnen, wenn er das evangelische Pfarrhaus aufgrund von Baumängeln abreißen lässt.

    Gebet syrischer Christen
    Uwe Gräbe stellt ein Gebet der syrischen Christen vor, dass wir in der EKHN als ein Zeichen der Solidarität mitbeten können. Der Verfasser Efrem der Syrer (306-373) war einer der bedeutendsten Kirchenväter, die das Christentum geprägt haben. Er steht ganz am Anfang unserer christlichen Tradition. Und auf ihn wird ein kurzes, schlichtes Gebet zurückgeführt. Es wird bis heute in der Orthodoxen Kirche – auch in Syrien – gesprochen:
    „Herr und Meister meines Lebens, gib mir nicht einen Geist der Faulheit, der Hoffnungslosigkeit, der Machtgier oder des Geschwätzes.
    Sondern gib mir, deinem Diener, einen Geist der Lauterkeit, der Bescheidenheit, der Geduld und der Liebe.
    Ja, mein Herr und König, gib mir, dass ich meine eigenen Fehler sehe und meine Geschwister nicht verurteile.
    Denn gepriesen seist du von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“

    (Übersetzung: U.G., nach der griechischen Fassung auf Wikipedia)

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