Migration am Bahnhof
Am Mittwoch – Menschen unter dem Radar der Sozialsysteme
Gabriele Tamborrelli/istockphoto.comMichael Frase: „Passives Betteln ist zu akzeptieren.“ (Symbolbild)24.08.2016 red Artikel: Download PDF Drucken Teilen Feedback
Der Frankfurter Hauptbahnhof ist neben dem Flughafen nicht nur das wichtigste Drehkreuz für die Rhein-Main-Region, sondern auch einer der meist frequentierten Bahnhöfe in Deutschland. Allein über 300.000 Zugreisende und Pendler bewegen sich täglich am und im Bahnhof, dazu kommen noch mehr Reisende aus Fernbussen, Mitfahrgelegenheiten und dem öffentlichen Nahverkehr.
Dabei ist der Bahnhof auch ein wichtiger Ort für einige Migrantinnen und Migranten. Darunter sind beispielsweise Menschen, die keinen Aufenthaltsstatus in Deutschland haben oder Familien, die in ihrer Heimat extreme Armut erlebt haben. Woher kommen sie? Wie kommen sie hier über die Runden? Darüber spricht Dr. Michael Frase im Interview. Er ist Leiter des Diakonischen Werkes des Evangelischen Regionalverbandes für Frankfurt am Main hat den Eindruck: „Wir stehen hier in Frankfurt auch am Ende einer Kette von EU-Problematiken. Die schlagen in Frankfurt sehr heftig auf.“
Warum ist der Frankfurter Hauptbahnhof ein wichtiger Anlaufpunkt in Frankfurt?
Michael Frase: Bahnhof ist eine Ankommenssituation von Menschen, die mit Hoffnungen und Zukunftswünschen in der Stadt landen, die wie durch ein Tor durch den Bahnhof in die Stadt gehen. Diese Funktion hat der Bahnhof immer schon gehabt. Das heißt: Menschen kommen mit Lebensentwürfen, auch wenn sie gescheitert sind, hier her und wollen eine Perspektive. Der Bahnhof ist aber auch eine Transitzone. Menschen, die eigentlich woanders hinwollen oder hinmüssen, frequentieren den Bahnhof.
Warum zieht es auch bedürftige Menschen nach Frankfurt?
Michael Frase: Frankfurt ist nach wie vor eine der reichen Metropolen in Deutschland und in Europa. Auch weil die Stadt immer die Illusion hervorruft, dass es hier immer Jobs gibt. Ich würde auch sagen: Viele soziale Problematiken sind gar nicht in der Stadt entstanden, sondern sie kommen in die Stadt. Manche Frauen und Männer erhoffen sich von der Stadt ein besseres, vernetzteres Hilfesystem. Wenn ich mittellos bin oder keine echte Perspektive habe, ist Frankfurt als Metropole attraktiv. Denken Sie nur mal daran, wenn Sie im Bereich ‚Betteln und Sammeln’ Ihren Lebensunterhalt sichern wollen; auch da ist Frankfurt als reiche Bankenstadt natürlich vorne mit dabei.
Stichpunkt Betteln: Oftmals wird das Betteln scharf verurteilt - wie sehen Sie das?
Michael Frase: Betteln ist keine Kriminalität. Aber es gibt organisiertes Betteln. Wir haben schon vor vielen Jahren Leitlinien zum Zusammenleben im öffentlichen Raum entwickelt, wo wir Betteln einmal definiert haben. Da muss man das normale Betteln unterscheiden im Gegensatz zum aggressiven Betteln, wo man Leute aktiv bedrängt. Aber passives Betteln ist zu akzeptieren. Solange die organisierten Bettler in dieser passiven Art und Weise Betteln und nicht bedrohlich oder aggressiv dem Betteln nachgehen, ist das einfach der Erwerb dieser Personengruppe und das müssen wir akzeptieren. Wenn jemand an einer Kirche sitzt und bettelt, dann ist das ein klassisches Bettelbild, das es schon Jahrhunderte gibt.
Bei den Obdachlosen und Bettlern aus Osteuropa sprechen viele davon, sie seien „organisiert“. Stimmt das?
Michael Frase: In Frankfurt finden wir eine klassische Ankommenssituation aus Osteuropa. Wir treffen dabei auf Netze unterschiedlichster Art. Wir merken das ja nicht nur in der Bahnhofsmission, sondern auch in den Tagesaufenthalten wie Weser 5 jeden Tag. Der Unterschied zum ‚klassischen Wohnsitzlosen’ ist der: Ein Wohnsitzloser ist ein Einzelgänger. Bei den Ankommenden aus Osteuropa haben wir das Gegenteil: Sie haben Netzwerke. Es gibt beispielsweise Familienverbände, man ist gar nicht so alleine, sondern deutlich organisierter. So versucht man auch im Hilfesystem zu partizipieren und tauscht sich gegenseitig aus. Dadurch entsteht natürlich auch im Angebot der sozialen Arbeit ein Unterschied zur ‚klassischen’ Wohnungslosenarbeit. Die übernachtenden Menschen aus Osteuropa, die Sie auch im Bahnhofsviertel immer wieder sehen, sind feste Gruppen, die in Netzwerke eingebunden sind.
Die Stadt Frankfurt versorgt zugewiesene Flüchtlinge. Dabei vermittelt der evangelische Verein für Wohnraumhilfe auch Wohnungen an Flüchtlinge. Doch es soll Menschen geben, die nicht erfasst werden.
Michael Frase: Ja. Es gibt noch die Menschen, die keinen Versorgungsanspruch durch die Stadt Frankfurt haben: Man kann sagen, es sind Statuslose oder ganz normale Touristen. Ein Statusloser kann beispielsweise ein Flüchtling sein, der einen Aufenthaltsstatus in Italien hat, aber keinen in Deutschland. Die Leute wollen aber meistens nicht in Italien sein, weil sie dort keinerlei Chancen sehen. Dann suchen diese Menschen hier eine Form der Erwerbstätigkeit, sammeln Flaschen oder arbeiten schwarz – diese Statuslosenproblematik haben wir schon seit Monaten. Wir schätzen, dass das einige Hundert sind, die sozusagen unter dem Radar des offiziellen Sozialsystems leben. Wichtig ist mir bei diesem Begriff jedoch zu sagen: Wenn jemand Statusloser heißt, dann bedeutet das nicht, dass er keinen Status hat. Er hat ihn nur woanders.
Hängt damit auch die hohe Anzahl der Arbeitsmigranten im Bahnhofsviertel zusammen?
Michael Frase: Natürlich ist die Schwarzarbeit dadurch gekennzeichnet, dass es hierzu keine offiziellen Zahlen gibt. Ich glaube, die Schwarzarbeit ist sehr saisonal. Aber natürlich beobachten wir das in unseren Einrichtungen. Wir haben gerade im Bahnhofsviertel viele Menschen, die irgendwo, irgendwie einer Tätigkeit nachgehen, meist Personengruppen aus Rumänien oder Bulgarien. Meistens akzeptieren diese Menschen das elende Leben, weil sie möglichst viel Geld nach Hause schicken möchten. Gleichzeitig haben diese Menschen keinen Zugang zum Wohnungsmarkt oder zum Jobcenter und bleiben als Schwarzarbeiter in einer prekären Lebenslage. Allerdings gilt auch hier: Gäbe es die Nachfrage nach der Schwarzarbeit nicht, hätten wir nicht diese Situation wie beispielsweise die der Elendsunterkünfte in der Gutleutbrache.
Was bedeutet das für den sozialen Frieden einer Stadt, wenn zu den Wohnungslosen die neue Gruppe der Geflüchteten und Arbeitsmigranten hinzukommt?
Michael Frase: Wir erleben schon seit langer Zeit, dass wir konkurrierende Gruppen im sozialen Versorgungssystem haben. Ich möchte noch einmal erinnern an den klassischen Obdachlosen, der männlich ist und alleine agiert. Ihm gegenüber treten nun vor allem Menschen aus Osteuropa, die in Netzen arbeiten. Das hat natürlich Auswirkungen auf Orte wie Tagestreffs oder Essensausgaben. Da werden beispielsweise Plätze besetzt – und so fängt die Spannung an. Es gibt eine Konkurrenz unter den Armen untereinander, bis hin zu Verdrängungssituationen.
Wie reagieren die sozialen Einrichtungen darauf?
Michael Frase: Wir müssen als Träger von sozialen Einrichtungen genau hinsehen; die meisten Einrichtungen sind laut Sozialgesetz für Menschen mit einem Anspruch auf Sozialleistungen ausgerichtet. Der ideale sozialarbeiterische Weg ist ja, dass jemand beispielsweise in einem Tagestreff ankommt, dann wird er beraten und ihm wird so weitergeholfen, dass er am Ende wieder in einer eigenen Wohnung lebt und auf eigenen Beinen stehen kann. Das ist die eigentliche Hilfekette. Wir wollen Menschen nicht dauerhaft in einer prekären Situation stabilisieren oder begleiten – wir wollen sie dort herausholen! Das ist unser Anspruch und auch unser Menschenbild, dass der Mensch selbst über sich und seine Ressourcen bestimmen kann und nicht abhängig von einem Hilfesystem ist.
Wie Sie schon sagen, das ist der idealtypische Weg...
Michael Frase: Die Hilfekette ist in dem Bereich der Statuslosen nicht möglich. Wir können diese Menschen nicht nachhaltig ins System aufnehmen, da sie keinen Zugang bekommen. Die Menschen sind aber da – deswegen sind wir in der Situation, dass wir als Diakonie darauf reagieren müssen. Wir sind da in einer gewissen humanitären Art und Weise zu Versorgern geworden.
Was müsste sich in Politik oder Gesellschaft ändern?
Michael Frase: Wir stehen hier in Frankfurt auch am Ende einer Kette von EU-Problematiken. Die schlagen in Frankfurt sehr heftig auf. Das Armutsgefälle in der EU ist nach wie vor so groß, dass die Menschen als Bedürftige hier herkommen. Und dann muss man immer bedenken: Je besser wir diese Personengruppen hier versorgen, desto größer sind die Anreize für noch mehr Menschen, nach Frankfurt zu kommen – und dann stoßen wir an unsere Grenzen. Eine Stadt wie Frankfurt will selbstverständlich keine großen Anreizsysteme schaffen. Das ist natürlich ein Dilemma und wir sind immer im Spannungsfeld zu unserer Absicht, humanitäre Hilfe anzubieten. Deswegen: Es geht nur europaweit. Wie kriegen wir vor Ort, also beispielsweise in Osteuropa, stabilisierende Projekte hin? Wir müssen dort Arbeitsplätze schaffen und die krassen Gefälle abbauen. Es geht hier nicht um Egalisierung, aber Menschen verlassen ihre Heimat nur, wenn sie ein starkes Gefälle erleben und Frankfurt oder Deutschland generell auf der anderen Seite des Gefälles steht.
Noch einmal zurück zum Frankfurter Bahnhof - dem Tor zur Stadt. Was wünschen Sie sich von diesem Ort für die Zukunft?
Michael Frase: Den Bahnhof haben wir früher immer als ein öffentliches Gebäude wahrgenommen, aber der Bahnhof ist heute ein privates Gebäude. Somit ist der Bahnhof auch keine öffentliche Institution, die soziale Problemlagen verhandeln muss. Das ist die Aufgabe der Stadt. Der Bahnhof ist keine primäre Obdachlosenunterkunft oder ähnliches. Deswegen bauen wir ja – auch durch die Bahnhofsmission als Scharnier – unsere sozialen Strukturen um den Bahnhof herum auf. Dennoch würde ich den Bahnhof nicht aus der Pflicht nehmen. Eben weil der Bahnhof dieses Tor ist und weil über ihn Menschen mit sozialer Problemlage in die Stadt kommen, kann er sich nicht aus einer sozialen Bedeutung herausziehen: Der Frankfurter Hauptbahnhof hat eine soziale Verantwortung.
Zur Aktion „Sieben Tage, 24 Stunden rund um den Bahnhof“ auf www.ekhn.de/bahnhof
Diese Seite:Download PDFTeilenDrucken