1968
Reformation und Revolution in der EKHN
istockphoto/AnastazzoEin Blick in die Geschichte der EKHN zeigt: 1968 war ein stürmisches Jahr.15.03.2018 pwb Artikel: Download PDF Drucken Teilen Feedback
Auf ihrer Frühjahrstagung im März 1968 widmete sich die EKHN-Synode dem Thema „Die Kirche und der Krieg in Vietnam“. Der Synodale Richard von Weizsäcker, damals Mitglied der Kirchenleitung, formulierte in seinem Redebeitrag, wie die Vereinigten Staaten zunehmend das Vertrauen der westlichen Welt verloren: „Die Vereinigten Staaten waren die wesentliche Schutzmacht unserer hiesigen Freiheit, sie beschützten uns in einem politischen Sinn, sie förderten unsere Bildung, sie förderten uns in allen Lebensbereichen bis hinein in die Aktivitäten unserer Kirche … Dies alles zerbröckelt stückweise in Vietnam. Mit jeder Kriegswoche büßen die Vereinigten Staaten das Vertrauen in der Welt mehr ein.“
Martin Niemöller, zu diesem Zeitpunkt zwar nicht mehr Kirchenpräsident, aber Mitglied der Synode, berichtete von seinen Reisen nach Vietnam im Jahre 1967 und verwies auf die Probleme einer ungerechten Weltwirtschaft.
Der Protest der Jugend
Auf der Frühjahrstagung ging es aber nicht nur um den US-amerikanischen Kriegseinsatz, sondern auch um die Studentenproteste. Die Studentenpfarrer Martin Stöhr und Wolfgang Kratz deuteten den Protest der Jugend so: „Für sie ist Vietnam zu einem Symbol geworden, zu einem Symbol der Dritten Welt, die gefährdet ist von der Schere des Hungers, gefährdet dadurch, dass die Kurve zwischen der Nahrungsmittelproduktion und der Weltbevölkerung immer weiter auseinanderklafft.“
Erklärung der Kirchensynode zum Vietnamkrieg (Auszug)
In einer Resolution formulierte die Synode ein „Nein“ zum Krieg in Vietnam:
„Es ist weder prokommunistisch noch antiamerikanisch, wenn wir feststellen, dass dieser Krieg auch zum Schaden des amerikanischen Volkes und seines Ansehens in der Welt geführt wird. Darum fordern wir die Regierung unseres Landes auf, dass sie alle Schritte unterlässt, die als moralische oder materielle Unterstützung der amerikanischen Kriegsführung wirken oder verstanden werden müssen.“
Und weiter: „Wir bezeugen unsere Solidarität mit den amerikanischen Christen, die in ihrem Land auf eine schnelle Beendigung des Krieges drängen und von ihrer Regierung überzeugende Schritte der Friedensbereitschaft fordern. Wir rufen die Gemeinden auf, sich über die Vorgänge in Vietnam eingehend zu informieren, fürbittend für die Not der Menschen einzutreten und sich für die Opfer des Krieges in Nord- und Südvietnam tatkräftig einzusetzen.“
„Go-ins“ in den Gottesdiensten
Die sogenannten „Studentenunruhen“ erfassten auch die Kirche. Nicht nur an den Universitäten und auf den Straßen wurde demonstriert und diskutiert, es wurden auch Diskussionen im Gottesdienst gefordert. Die Ermordung Martin Luther Kings am 4. April 1968 und das Attentat auf Rudi Dutschke am 11. April verschärften die Situation in der Bundesrepublik. In Frankfurt, Mainz und Gießen kam es zu Störungen der Karfreitags- und Ostergottesdiensten. Bei sogenannter „Go-ins“ tauchten die Protestierenden mit Transparenten in den Kirchen auf und erzwangen politische Diskussionen. In einem Eilbrief an die Gemeinden der größeren Städte rief Kirchenpräsident Wolfgang Sucker die Pfarrer zur Besonnenheit auf. Polizeieinsätze sollten vermieden werden.
Demokratisierung
Das Thema „Demokratisierung in der Kirche“ war in der EKHN angekommen. Im November fand eine „Besinnungstagung“ für Synodale statt. Unter den 150 Teilnehmern auch studentische Vertreter aus Mainz und Frankfurt. Der Mainzer Theologieprofessor Gert Otto sprach sich „für eine schrittweise, konsequente Demokratisierung der Kirche“ aus. Die Einrichtung eines eigenen Synodalbüros zur besseren und unabhängigen Informationsbeschaffung für die Synodalen ist eine der Konsequenzen dieser Tagung. Fortan sollten auch Jugendvertreter an den Synodaltagungen beteiligt werden. Folgen dieser Tagung waren auch, dass das Wahlalter für Kirchvorstandswahlen auf 16 Jahre herabgesetzt wurde und auch, dass Kirchenvorstandssitzungen und Dekanatssynodaltagungen grundsätzlich öffentlich sein sollen.
Außersynodale Opposition
Auf der Dezember-Synode 1968 kam es – abseits der offiziellen Tagesordnung - zu Gesprächen mit der „Außersynodalen Opposition“ (ASO). Die ASO forderte „eine politische Theologie, die ein gesellschaftliches Bewusstsein schafft, die die versteckte Unterdrückung der Gesellschaft im Verein mit anderen Humanwissenschaften aufdeckt und die Liebe, Gerechtigkeit und Frieden anstrebt.“ Aus der ASO wurde später die innersynodale Gruppe „Offene Kirche“.
„Reformation und Revolution“
Auf der Herbstsynode 1968 hatte der amtierende Kirchenpräsident Wolfgang Sucker in seinem Bericht „Reformation und Revolution“ seinen Respekt vor den studentischen Protesten bekundet: „Ich … kann das Feingefühl für Freiheit, das in der akademischen Jugend sich ausgebildet hat, nur mit Achtung zur Kenntnis nehmen und möchte ihr wünschen, dass dieser ihr Freiheitswille auch dann Bestand hat, wenn die Menschenrechte etwa einmal außer Kurs gesetzt werden.“
Martin Niemöller legte in diesem Dezember sein synodales Amt nieder. Ihm gingen die demokratischen Vorstöße im Kirchenparlament zu weit: „Lassen Sie das ja um Himmels willen nicht in unserer Kirche einreißen!“. Bereits auf der „Besinnungstagung“ im November formulierte Niemöller zugespitzt: „Die Kirche ist keine Demokratie, weil sie nämlich einen Herrn hat.“
Nach dem überraschenden Tod von Kirchenpräsident Wolfgang Sucker am 30. Dezember 1968 kehrte Niemöller zur Synode zurück. Sucker hatte sich das wohl im persönlichen Gespräch von Niemöller gewünscht.
Quellen: Karl Herbert: Durch Höhen und Tiefen. Eine Geschichte der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Spener Verlagsbuchhandlung GmbH, Frankfurt am Main 1997
und: Jahresbericht 2006/2007, 60 Jahre Evangelische Kirche in Hessen und Nassau
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