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Zimmer frei für Flüchtling in Studierenden-WG
Manuel MehlhornMarburger Studenten-WG, von links: Nora, Alexa, Tedros, Mo und Anton20.05.2015 red Artikel: Download PDF Drucken Teilen Feedback
„What I love most about my home is who I share it with.” (Was ich am meisten zu Hause liebe, sind meine Mitbewohner.) Schon vor Betreten der Wohnung weist dieser Spruch an der Wohnungstür fremde Besucher darauf hin, dass es sich hierbei keinesfalls um eine Zweck-WG handelt. Denn die Studenten-WG in der Marburger Oberstadt von Nora, Alexa, Tedros, Anton und Mo, die alle zwischen 21 und 23 Jahre alt sind, ist etwas ganz Besonderes: Die Wohngemeinschaft zählt hessenweit zu den ersten, die einen Flüchtling bei sich aufgenommen haben. Seit November 2014 wohnt der 22-jährige Tedros bei ihnen, der vor anderthalb Jahren aus Eritrea geflüchtet ist und zunächst in der Gießener Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge warten musste, bis die Bearbeitung seines Asylantrags in Angriff genommen wurde.
Beim WG-Casting: „Das passt, den nehmen wir!“
Nora und Alexa engagieren sich ehrenamtlich im Verein „Asylbegleitung Mittelhessen e.V.“; Nora gibt Deutschunterricht und Alexa betreut Flüchtlingskinder. Als sie dann im Herbst einen neuen männlichen Mitbewohner suchten, brachten die beiden Studentinnen ihre Mitbewohner auf die Idee, über den Verein einen Flüchtling bei sich zu Hause aufzunehmen. Den weiteren Kontakt stellte dann Jana Vogel her, die zweite Vorsitzende des Vereins „Asylbegleitung Mittelhessen“. Der Verein besteht seit Januar 2014, zählt 80 aktive Mitglieder und bietet neben dem Deutschunterricht und der praktischen Hilfe bei der Kinderbetreuung, Arztbesuchen und Ämtergängen auch seit Neustem eine WG- und Wohnungsbörse für Flüchtlinge an. „Wir haben dann ein klassisches WG-Casting mit mehreren Studenten und Tedros gemacht“, erzählt Anton. „Bei Tedros war uns allen sofort klar: ‚Das passt, den nehmen wir!‘“, ergänzt Mo. Tedros selbst wirkt zwar trotz seiner Deutsch- und Englischkenntnisse etwas schüchtern, aber nicht minder glücklich in seinem neuen Lebensumfeld. „Ich bin hier sehr zufrieden“, sagt er und lächelt dabei.
Tedros stellt Vorurteile auf den Kopf – er ist der Sauberste
Jana Vogel von der Asylbegleitung Mittelhessen hofft, dass sich bald Nachahmer finden und auch andere WGs in Marburg und der Umgebung anfangen, nicht nur Studenten für ihre WGs zu casten. „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Vermieter sofort absagten, als sie erfuhren, dass es sich bei den Wohnungssuchenden um Flüchtlinge handelt. Dabei fielen immer wieder unbegründete Ressentiments gegen Flüchtlinge, gerade hinsichtlich der Sauberkeit oder der Weitervermietbarkeit der Wohnung“, berichtet Vogel. „Unsere Küche sieht besser aus als vor Tedros‘ Einzug, er ist der Sauberste von uns allen“, widerlegt Mo die angesprochenen Vorurteile aus seiner Erfahrung mit Tedros.
"Nordkorea Afrikas": Flucht vor Diktatur
Dabei hat der junge Mann einiges zu verkraften. Denn ein Bruder hofft in Schweden ebenfalls auf die Bewilligung seines Asylantrags und die weiteren Mitglieder seiner Familie leidet in Eritrea wie die restliche Bevölkerung unter Militärdiktator Isayas Afewerki. Dieser deutet die seit 1993 bestehende Unabhängigkeit von Äthiopien zum rigorosen Isolationismus um, provoziert militärische Konflikte mit den Nachbarn und unterbindet jegliche diplomatischen oder wirtschaftliche Beziehungen zu den Nachbarstaaten, was seinem Land den internationalen Status als „Nordkorea Afrikas“ eingebracht hat. Im Human-Development-Index, in dem die UNO den Entwicklungsstand erhebt, rangiert Eritrea auf Platz 182 von 187. Bei der Pressefreiheit, erfasst von den „Reportern ohne Grenzen“, belegt Eritrea mit dem 180. Rang gar den Schlussplatz.
Integration ins Studentenleben – mit Trommel-Session
Doch Tedros wirkt angesichts dieser katastrophalen Fakten erstaunlich zuversichtlich und berichtet über sein Leben in Deutschland: „Ab halb zwei habe ich jeden Tag Deutsch-, Mathe- und Geographie-Unterricht in der Adolf-Reichwein-Schule“, erzählt er. Danach trifft er Freunde, geht auf Partys oder kocht mit der WG; „er ist unser Chefkoch“, wirft Mo ein und die anderen WG-Mitglieder bestätigen Tedros herausragende Kochkünste. „Er hilft eher uns als wir ihm“, findet Anton. Trotzdem tun die Vier ihr Bestes, um ihn in die WG, das Marburger Studentenleben und Deutschland zu integrieren: „Wir schauen viele deutsche Serien mit ihm und haben ihn schon zum Herbert-Grönemeyer-Fan gemacht, das ist dann unsere Art von Deutschunterricht“, erzählt Nora. „Bei der letzten WG-Party hatte er sichtlich seinen Spaß, als wir plötzlich zu trommeln angefangen haben“, erinnert sie sich. In Tedros‘ Zimmer hängt neben vielen christlichen Motiven sogar eine Deutschland-Fahne, was so manchen Konservativen bestimmt von seiner Integration in die deutsche Gesellschaft überzeugen dürfte. „Bei der WM hat er am lautesten für Deutschland gejubelt“, berichtet Jana Vogel aus seiner Zeit, bevor er in die Marburger WG eingezogen ist. „An unserem WG-Leben hat sich im Prinzip nichts verändert. Tedros ist ein junger Mensch wie wir, das Zusammenleben funktioniert wie in jeder anderen WG auch“, bilanziert Nora.
WG freut sich über Nachahmer
Nora, Alexa, Tedros, Anton und Mo hoffen, dass ihr Beispiel Schule machen wird. „Wir haben mindestens 20 junge Männer und mehrere Familien sofort abrufbereit, die auch gerne wie Tedros in eine WG oder Wohnung in Marburg und Umgebung ziehen möchten. Von diesen 20 wurden allein fünf Studenten durch den Bürgerkrieg aus ihrem Leben in Syrien herausgerissen. Sie sprechen sehr gut Englisch, sind im Studentenalter und haben bereits in WGs gelebt“, ermutigt Vogel dazu, bestehende Barrieren abzubauen.
Die private Unterbringung bietet den Flüchtlingen den Vorteil, dass sie durch das gemeinsame Zusammenleben und den täglichen Umgang mit der deutschen Sprache unmittelbar in die Gesellschaft integriert werden. „Hier kann Tedros viel leichter Anschluss finden und sogar mit dem Fahrrad zur Schule fahren“, so Vogel. „In großen, unpersönlichen und meist abseits größerer Städte gelegenen Flüchtlingsheimen ist eine unmittelbare Integration meist nur schwer bis gar nicht möglich“, erklärt die Aktivistin.
Interkultureller Austausch
Für Privatpersonen, egal ob Familie, Alleinstehende oder WG-Bewohner, bietet diese Art der Flüchtlingsunterbringung die Möglichkeit des interkulturellen Austauschs und der eigenen Horizonterweiterung. Und das im Zuge unmittelbarer Hilfe für Menschen, die vor menschenunwürdigen Zuständen aus ihrer Heimat geflohen sind und sich glücklich schätzen können, die Festung Europa überhaupt erreicht zu haben. Für Vermieter mag diese Form der Vermietung zudem deshalb attraktiv sein, da die Miete vom Sozialamt getragen und stets pünktlich überwiesen wird.
Warnung vor übereifriger Hilfsbereitschaft
Allerdings gibt ProAsyl einige praktische Hinweise zu bedenken, was die Privataufnahme von Flüchtlingen angeht: „Es gibt Flüchtlinge, die eine Aufenthaltserlaubnis haben und schon längst in einer Wohnung leben könnten, aber Schwierigkeiten haben, auf dem freien Markt einen Vermieter zu finden, weil sie zum Beispiel mit geringen Deutschkenntnissen oder Vorurteilen zu kämpfen haben. Ihnen tun Sie einen besonderen Gefallen, wenn Sie Ihnen eine Wohnung anbieten“, empfiehlt ProAsyl in einer zusammen mit dem Interkulturellen Beauftragten der EKHN, Andreas Lipsch, herausgegebenen Pressemitteilung. Dennoch warnt auch ProAsyl vor übereifrigem Altruismus in Form von kostenfreiem Wohnen für Flüchtlinge: „Grundsätzlich ist es aus unserer Sicht richtig, dass die Kommune die Kosten für die Flüchtlingsaufnahme übernimmt und die staatliche Verantwortung nicht durch private Wohlfahrt ersetzt wird. Flüchtlinge kostenfrei wohnen zu lassen, könnte ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Ihnen und den Aufgenommenen entstehen, das ungute Auswirkungen haben kann“, gibt ProAsyl zu bedenken. Im Fall der Marburger WG wird die Miete für Tedros aus öffentlichen Mitteln finanziert.
Das Beispiel der Marburger WG zeigt, wie dezentrale Integration gelingen und die Beteiligten bereichern kann. Wer aus Marburg oder der Umgebung Interesse an der Privataufnahme von Flüchtlingen bekommen hat, kann bei Jana Vogel Kontakt aufnehmen.
E-Mail von Jana Vogel
Weitere Informationen:
Themen-Special: Hilfe für Flüchtlinge
Flüchtlingsseelsorge der Diakonie Hessen
Über die Serie "good news"
In der Serie „good news“ geben wir den Menschen eine Stimme, die das Leben noch ein bisschen lebenswerter machen– unabhängig von ihrer Weltanschauung. Denn wir finden: Es gibt so viele fantastische Aktionen von bisher unbekannten Heldinnen und Helden des Alltags, die die goldene Regel mit Leben füllen. Die goldene Regel sagt: „Behandle andere so, wie du selbst behandelt werden möchtest“.
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[Manuel Mehlhorn]
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