Kirche mittendrin
Einheitsfest: Neugierig und offen für Begegnungen
Rita DeschnerPfarrer Wolfgang H. Weinrich erklärt die Aktion: „Das Erntedankfest und der Tag der Deutschen Einheit sind zwei Gründe, um Danke zu sagen. Diesen Dank wollen wir mit einer Gabe ausdrücken, deshalb verteilen wir die Äpfel.“03.10.2015 rh Artikel: Download PDF Drucken Teilen Feedback
„Wenn ich jemanden kennenlerne, der zum Beispiel in Rostock lebt, denke ich: Er kommt einfach aus Deutschland“, erzählt die 20-jährige Ina März. Für die Studentin der Ernährungswissenschaften ist es keine Frage, ob jemand aus dem Osten oder Westen Deutschlands stammt. Sie gehört zu den ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern aus der evangelischen Kirche, die am Schaumainkai in Frankfurt am 3. Oktober anlässlich der Feierlichkeiten zu „25 Jahre Deutsche Einheit“ Äpfel verteilen. Pfarrer Wolfgang H. Weinrich erklärt die Aktion: „Das Erntedankfest und der Tag der Deutschen Einheit sind zwei Gründe, um Danke zu sagen. Diesen Dank wollen wir mit einer Gabe ausdrücken, deshalb verteilen wir die Äpfel.“
Friedliche Revolution als großes Geschenk
Ihre Dankbarkeit hatte Gabriele Scherle, die Pröpstin für Rhein-Main,am Tag zuvor während der Eröffnung des Kirchenprogramms im Metzlerpark hervorgehoben. In bewegenden Worten umriss sie die Bedeutung der Ereignisse (siehe im Kasten unten), die zur Wiedervereinigung vor 25 Jahren geführt hatten: „Ich habe fünf Jahre in Berlin studiert und habe mir niemals vorstellen können, dass die Mauer friedlich überwunden werden könnte. Und genau das ist der friedlichen Revolution gelungen! Dieses Wunder ist ein sehr großes Geschenk.“ Zudem sei sie auch dankbar dafür, dass die friedliche Protestbewegung aus der Basis der Bevölkerung gewachsen sei, zudem hätten die Kirchen den Raum dafür bereit gestellt.
Ängste thematisieren und neugierig aufeinander zugehen
Pröpstin Scherle, Dr. Martin Hein, der Bischof der Evangelischen Kirche von Kurhessen und Waldeck sowie der Frankfurter Oberbürgermeister Peter Feldmann stellten im Gespräch während der Eröffnung mit Moderator Fabian Vogt auch den Bezug zur aktuellen Lage der Flüchtlinge in Deutschland her. Die Pröpstin machte deutlich: „Viele von uns sind wohlhabend, es gehört selbstverständlich dazu, in den Urlaub zu fahren. Doch jetzt sollten wir bereit sein, die Mauern in uns zu überwinden und zu teilen.“ Wie kann der Angst von Bürgerinnen und Bürgern begegnet werden, die sich wegen der Anzahl der Flüchtlinge und der damit verbundenen Herausforderungen fürchten? Peter Feldmann ermutigte, über die eigenen Ängste zu sprechen: „Was einem Angst macht, sollte man ausdrücken. Selbst in einer Familie gibt es Streit, wenn Ängste zurückgehalten werden. Ziehen Sie sich nicht zurück, lassen Sie Nähe zu!“ Große Zustimmung erhielt Bischof Hein mit seine Worten: „Angst bauen wir ab, wenn wir uns begegnen. Viele Gemeinden bilden bereits Patenschaften, damit das Leben der Flüchtlinge in neuer Umgebung gelingt.“ Feldmann unterstützte diese Haltung: „Lasst uns neugierig aufeinander zuzugehen - wie die Kinder.“ Er bedankte sich zudem bei evangelischen Kirchenmitgliedern, die sich ehrenamtlich in der Flüchtlingsarbeit engagieren.
Reibungen mit Verständnis begegnen
Auch die evangelische Theologin Ulrike Lieberknecht ermutigte während einer Talkrunde am 3. Oktober dazu, über die eignen Geschichten und schmerzhaften Erfahrungen zu sprechen. Die evangelische Pfarrerstochter war in der DDR aufgewachsen und nach einem Fluchtversuch zu 14 Monaten Gefängnis verurteilt worden. Heute lebt sie im Westen. Ihr Eindruck ist: „Viele ehemalige DDR-Bürger sind zum Teil traumatisiert und gekränkt, viele tragen eine schwere Geschichte mit sich herum. Jetzt ist die Zeit, dass wir sie abwerfen, indem wir offen darüber reden – zuerst mit unseren Kindern.“ Sie berichtete, dass sich viele Menschen aus den neuen Bundesländern Illusionen über den Westen gemacht hätten und schließlich enttäuscht worden seien. Sie wird deutlich: „Wer die Tatsache einer Diktatur nicht anerkennt, bleibt unmündig.“ Sie hingegen freue sich über die Einheit: „Wir sind alle frei!“
Pfarrer Weinrich zeigt Verständnis für innerdeutsche Reibungspunkte: „Im Prinzip ist es wie eine Beziehung zwischen zwei Menschen, die ihre Vergangenheit, ihre unterschiedlichen Prägungen mitbringen – dazu gehören auch Erfahrungen des Scheiterns.“ Das sei natürlich auch spannungsreich. Der Kommunikationsexperte bleibt allerdings zuversichtlich: „Mit viel Verständnis für den anderen sind wir auf einem guten Weg.“
„Hessisch Sibirien“ plötzlich im Mittelpunkt der Weltgeschichte
Aus der Evangelischen Kirche von Kurhessen und Waldeck (EKKW) war Bischof Dr. Marin Hein bereits zur Eröffnungsveranstaltung am 2. Oktober in die Mainmetropole gereist. Er erinnerte daran, dass Teile des Gebietes seiner Landeskirche direkt an der damaligen innerdeutschen Grenze lagen. Der Bischof erzählte: „Für uns war die Grenzziehung etwas vollkommen Unnatürliches, Hessen und Thüringen waren sich immer sehr nah. Doch damals war die Welt kurz hinter den hessischen Orten vernagelt. Mittlerweile gehört der Kirchenkreis Schmalkalden wieder zu unser Landeskirche.“ Einst hatte die Region zur DDR gehört. In der Talkrunde zum Thema „Grenzerfahrungen“ am darauffolgenden Tag berichtete Dr. Ruth Gütter, Oberlandeskirchenrätin in der EKKW, wie sie die Zeit der Trennung an der Grenze zu Thüringen als hessische Pfarrerin bei Herleshausen erlebt hatte: „Einige Menschen waren auf beiden Seiten der Grenze miteinander verwandt. Und es kam vor, dass thüringische Verwandte nicht zur Beerdigung kommen durften, aber die Glocken gehört haben.“ Doch plötzlich war die als „Hessisch Sibirien“ verspottete Region im Mittelpunkt der Weltgeschichte. Sie erinnerte sich: „Die Herleshäuser haben die Türen geöffnet und die Leute willkommen geheißen. Zu sehen, wie sich wildfremde Menschen in den Armen liegen, prägt für das ganze Leben.“
Erntedank: Wunder im Alltäglichen entdecken
Zeit, um Danke zu sagen. Mit 9.125 Äpfeln beschenkt die evangelische Kirche vorbeischlendernde Festbesucherinnen und –besucher – das entspricht der Anzahl der Tage, die seit der Wiedervereinigung Deutschlands vergangen sind. Einen Tag vor dem Erntedankfest erklärt Pfarrer Wolfgang H. Weinrich, der das Programm der evangelischen Kirchen zum Einheitsfest maßgeblich mitorganisiert hat, dass der Erntedanktag und der Sonntag für ihn Stolpersteine des Lebens seien. Er sagt: „Wir halten inne, um zu entdecken, wie viel Unnormales im Normalen steckt. Schauen Sie sich diesen Apfel an. Wir beißen ganz selbstverständlich hinein. Doch was alles darin steckt!“ Da muss sich doch der liebe Gott etwas dabei gedacht haben!“ Und hat Weinrich recht: Rund 30 Vitamine, Mineralstoffe, Spurenelemente, Ballaststoffe und sekundäre Pflanzenstoffe sind in der Frucht versteckt. Laut Studien soll der tägliche Verzehr von Äpfeln dazu beitragen, Darmkrebs vorzubeugen.
Offizielles Einheitsfest in Frankfurt
Vom 2. bis 4. Oktober 2015 ist Frankfurt am Main der Schauplatz für das große Bürgerfest anlässlich des 25. Tages der Deutschen Einheit. Institutionen, Kirchen, Vereine und Kulturschaffende aus dem ganzen Bundesgebiet präsentieren sich mit ihren Ständen. Besucherinnen und Besucher können sich auf 300 Einzelveranstaltungen in der zentralen Innenstadt auf dem Römerberg, dem Pausplatz, der Zeil und am Main freuen. Am Abend des 3. Oktobers wird eine Lichtshow am Mainufer inszeniert. Zudem besuchten Gäste wie Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundespräsident Gauck die Mainmetropole. Mit Konzerten, Andachten, einer Apfelverteilaktion und weiteren Programm-Höhepunkten heißen die evangelischen Kirchen Gäste im Metzlerpark willkommen.
Programm der evangelischen Kirche
Artikel über das Programm der evangelischen Kirche
Hintergrund: Warum wird der Tag der Deutschen Einheit gefeiert?
„So erleben wir den heutigen Tag als Beschenkte. Die Geschichte hat es diesmal gut mit uns Deutschen gemeint. Umso mehr haben wir Grund zur gewissenhaften Selbstbesinnung.“ Mit diesen Worten würdigte der damalige Bundespräsidenten Richard von Weizäcker am 3. Oktober 1990 die deutsche Einheit. An diesem Tag trat die DDR (Deutsche Demokratische Republik) der Bundesrepublik Deutschland bei.
Die Trennung der beiden deutschen Staaten
Ursache für die 40 Jahre andauernde Teilung waren die Folgen des Zweiten Weltkriegs, den Deutschland verloren hatte. Denn zwischen den westlichen Siegermächten USA, Großbritannien und Frankreich auf der einen Seite und der Sowjetunion auf der anderen wuchs die Uneinigkeit. Und so gründete sich in den von den Westmächten besetzten Gebieten die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1949. In der sowjetischen Besatzungszone hingegen entstand die DDR und entwickelte sich als Diktatur nach marxistisch-leninistischem Vorstellungen.
Unterschiedliche Staats-Systeme und Lebensstile entwickeln sich
In den ersten Jahren gab es zwischen beiden deutschen Staaten einen kleinen Grenzverkehr, die Menschen konnten Verwandte besuchen – allerdings kehrten zunehmend mehr DDR-Bürger ihrem Staat den Rücken. Schließlich trennte seit 1952 ein durchgehender Stacheldrahtzaun Ost- und Westdeutschland, der durch Doppelzäune mit Minenstreifen ersetzt wurde. Um die Flucht in den Westen weiter einzudämmen, ließ die DDR im Jahr 1961 die Berliner Mauer errichten. Obwohl langsam auch in der DDR der Lebensstandard anstieg, wuchs in Teilen der Bevölkerung der Unmut.
Kritische Punkte waren u.a.:
- Das undemokratische politische System, das von der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) bestimmt war, eine wirkungsvolle, parlamentarische Opposition war nicht vorgesehen, auch nicht die Gewaltenteilung.
- In der Praxis war die Meinungsfreiheit eingeschränkt: Wer das DDR-System kritisierte, konnte für mehrere Jahre im Gefängnis landen, wie beispielsweise der ehemalige SED-Politiker Rudolf Bahro.
- Die Gefahr, durch die Staatssicherheit bespitzelt und unter Druck gesetzt zu werden, war groß. Inoffizielle Mitarbeiter beobachteten Nachbarn, Kollegen, zum Teil sogar den Ehepartner, um Regimekritiker zu entlarven und einzuschüchtern.
- Wirtschaftliche Eigeninitiative war angesichts der engen Grenzen der Planwirtschaft kaum möglich.
- Kirchenmitglieder waren von Einschränkungen betroffen. Kinder christlicher Eltern bekamen zum Teil Probleme, die Erweiterte Oberschule (eine Art Oberstufengymnasium) zu besuchen. Offiziell war die Religionsfreiheit in der DDR-Verfassung festgeschrieben, doch die christliche Lehre passte nicht zur atheistischen, marxistisch-leninistischen Staatsideologie der DDR. So versuchte die DDR-Führung den Einfluss der Kirchen zurückzudrängen.
- Die Reisefreiheit war stark eingeschränkt: Ein Urlaub im westlichen Ausland war kaum möglich, für Verwandtenbesuche in die Bundesrepublik musste beispielsweise ein Antrag gestellt werden, der auch abgelehnt werden konnte, wenn der Anlass nicht überzeugte oder Fluchtabsichten unterstellt wurden.
- Der Lebensstandard in der DDR entwickelte sich zwar zum höchsten im Vergleich zu anderen Ostblockstaaten, konnte aber mit dem Westen nicht Schritt halten. Auf ein Auto musste ein DDR-Bürger beispielsweise rund zehn Jahre warten.
Evangelische Kirchen werden zu Ausgangspunkten des friedlichen Protestes
Nach dem Amtsantritt von Michail Sergejewitsch Gorbatschow verbesserte sich das Verhältnis der Sowjetunion mit den westlichen Staaten, insbesondere den USA. Das Wettrüsten des Kalten Krieges endete. In der DDR konnten Oppositionelle bei den Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 Wahlfälschungen in einigen Fällen nachweisen. Damit wuchs der Widerstand gegen das DDR-Regime. Am 4. September schlossen sich über 1.000 Menschen zur ersten Montagsdemonstration nach dem Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche zusammen, viele weitere Gebete und Demonstrationen folgten. Die Menschen riefen: „Wir sind das Volk!“ und: „Demokratie, jetzt oder nie!“ Evangelische Pfarrer und Kirchenmitglieder trieben die Entwicklung voran. So engagierten sich die Theologen Reiner Eppelmann und Friedrich Schorlemmer und andere evangelische Kirchenvertreter und -mitglieder in den sich bildenden Bürgerrechtsorganisationen. Zudem flohen zunehmend mehr DDR-Bürger über Ungarn in den Westen. Ungarn hatte ebenso wie die DDR zum sozialistisch geprägten Ostblock gehört, aber im Frühsommer begann Ungarn, seine Grenzen zu Österreich abzubauen. Auch das Botschaftsgelände der Bundesrepublik im tschechoslowakischen Prag gehörte zu einer entscheidenden Etappe vieler Flüchtenden. Am 30. September gab der damalige bundesdeutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher nach Verhandlungen 6000 Ausreisewilligen die erlösende Nachricht zur Ausreise in den Westen. Es war nicht mehr zu übersehen: Die Menschen verließen die DDR in Massen. Die friedliche Revolution erreichte ihr Ziel: Am 9. November fiel die Mauer, die Grenzen zwischen der DDR und der Bundesrepublik öffneten sich.
Das Vertrauen der Welt gewinnen
Schließlich bahnten die Politiker beider Staaten den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik an, zuvor hatte es Neuwahlen in der DDR gegeben. Doch einige Staatschefs der Siegermächte zeigten sich besorgt. So fürchtete beispielsweise die britische Premierministerin Margaret Thatcher: „Ein wiedervereinigtes Deutschland ist schlichtweg viel zu groß und mächtig.“ Dem damaligen deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl gelang es, die Befürchtungen weitgehend auszuräumen. Die Vertreter der beiden deutschen Staaten und der vier Siegermächte einigten sich schließlich auf den „Zwei-plus-Vier-Vertrag“. Zum einen ersetzte er einen Friedensvertrag zwischen den Siegermächten und den Besiegten und erteilte Deutschland die „volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten“. Der Weg zur Wiedervereinigung war geebnet. Schließlich unterzeichneten die Vertreter beider deutscher Staaten am 31. August 1990 den Einigungsvertrag. Am 3. Oktober 1990 wird die deutsche Einheit endlich Wirklichkeit.
Diese Seite:Download PDFTeilenDrucken