Im Mai ist es das erste Mal passiert. Bei der Vorstellungsrunde im Seniorencafé stellte sich heraus, dass niemand in Egelsbach geboren und aufgewachsen war. – Einige sind erst in den letzten Jahren nach Egelsbach gekommen, meist der Kinder wegen. Sie kommen aus dem Schwäbischen, oder aus dem Norden. – Andere leben seit vielen Jahrzehnten in Egelsbach: Sie erzählen mir von Asch im Egerland, vom Hof in Kurland, von der Flucht aus Ostpreußen und von den furchtbaren Nachkriegsjahren im rumänischen Siebenbürgen.
Dutzende solcher Lebensgeschichten habe ich in den letzten Jahren gehört. – Ja, in den letzten Jahren. Denn in meinen ersten Dienstjahren war das nur selten ein Thema. Aus zwei Gründen: Zum einen haben die alten Menschen wohl gespürt, dass ich nicht wirklich offen war für ihre Geschichten vom Verlust der Heimat. In meinem Weltbild waren Flucht, Vertreibung und Verlust der Heimat Folge des deutschen Angriffskrieges und des damit verbundenen Terrors. Opfergeschichten Deutscher schienen mir nur geeignet, die eigene deutsche Schuld zu relativieren und aufzurechnen gegen erlittenes Unrecht. Und so haben mir viele alte Menschen ihre Lebensgeschichten nicht erzählt.
Der zweite Grund ist dem ersten verwandt: Auch für viele der Menschen, die damals als Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene Flucht und Vertreibung erleben mussten, war das Thema tabu. Sie hatten teuer genug bezahlt für die Verstrickung der eigenen Familie ins von Deutschen begangene Unrecht. Und damit war die Rechnung auf null und alle Kraft frei für den neuen Anfang in Egelsbach.
Jetzt also erzählen mir die Alten aus ihrer Kindheit und Jugend. – Und es sind nicht nur die Verlustgeschichten. Nicht nur Krieg, Chaos, Angst, Flucht, Vertreibung, gesehene und erlittene Gewalt. Nein, es kommen auch die anderen Geschichten. Sehnsuchtsgeschichten. Geschichten aus einer harten, meist bäuerlichen Welt voller Arbeit. Aber sie werden erzählt als Geschichten vom verlorenen Paradies. – Vielleicht grade weil es keinen Weg zurück gibt, ist die verlorene Welt so paradiesisch.
Auch Senioren, die in Egelsbach aufgewachsen sind, erzählen von der meist kargen Kindheit, nicht wirklich vom Hunger, aber doch vom Mangel. Von harter Arbeit, vom Klo auf dem Hof und der Ziege im Stall, davon dass es für den Konfirmationsanzug kein Geld gab und dass es zur Hochzeit zwei Flaschen Wein und ansonsten halt selbstgekelterten Äppelwoi gab. Auch ihre Geschichten werden meist von einem versonnenen Lächeln begleitet. Denn auch sie berichten ja von einer verlorenen Welt, in die es kein Zurück gibt. Und in der Erinnerung scheint auch ihnen die Welt der Kindheit und Jugend paradiesisch.
Gibt es ein zurück? Ernst Bloch beendet sein berühmtes „Prinzip Hoffnung“ mit den Worten: „Ein Licht, das uns allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“ Mitte Juli war ich im DRK- Seniorenheim zum Gottesdienst. Wir haben zusammen „Großer Gott wir loben dich“ gesungen und dann den 23. Psalm gesprochen. Auswendig. Einige bewegten nur die Lippen, andere sprachen bis zum Schluss klar und deutlich mit: „Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.“ Heimat.
Pfarrer Martin Diehl
Evangelische Kirchengemeinde Egelsbach
Verlorene Heimat?
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