Ein Brief vom alten Simeon

„Ich bin alt geworden. Nach langem Sitzen fällt es mir schwer, aufzustehen. Ich sehe schlecht, und scheinbar kann ich auch nicht mehr gut hören. Meine Welt wird deshalb immer kleiner und enger. Ich gehe selten aus dem Haus. Es ist mir alles zu viel. Die Welt macht mir Angst. Sie überfordert mich.

Ich verlasse meine vertraute Umgebung nur in Begleitung. Und dann gehe ich nur zum Beten in den Tempel und anschließend auf den Friedhof zu meiner Frau. 

Mit meinen Erinnerungen und meinen Ängsten bin ich schon lange allein. Wem soll ich erzählen, wie das früher gewesen ist, und warum mir das Heute so viele Sorgen macht?  Das verstehen schon die eigenen Kinder nicht mehr. Ich sehne mich danach, die Welt für immer verlassen zu dürfen. Wenn Gott mir nicht versprochen hätte, dass ich vor meinem Tod noch einmal den Christus, den Heiland, sehen werde, dann würde ich wahrscheinlich nicht mehr leben.

So habe ich jedenfalls noch vor kurzem gedacht. Mein Leben war trostlos und einsam. Aber dann geschah etwas, das ich noch nicht wirklich einordnen kann: Ich betete im Tempel und dachte wie so oft, dass es besser gewesen wäre, zu Hause zu bleiben. Aber dann sah ich die beiden jungen Leute mit dem Säugling. Wie aufgeregt sie waren, wie erschöpft und gleichzeitig glücklich, während sie Gott ihr Opfer brachten.

Die beiden erinnerten mich an mich selbst, an den jungen Simeon. Und so folgte ich einem überraschenden Impuls und sprach sie an. Maria und Josef kommen eigentlich aus Nazareth, hatten aber die Geburt ihres Kindes fern von zu Hause erlebt. Dem Neugeborenen gaben sie den Namen Jesus. „Gott rettet“ bedeutet das.

Warum ich unbedingt das Kind auf den Arm nehmen wollte, weiß ich heute nicht mehr. Eigentlich habe ich viel zu viel Angst, dass mir alles aus den Händen fällt. Aber dann lag der Kleine in meinem Arm, und wir schauten uns an.

Der Blick veränderte alles. Meine Augen erinnerten sich daran, dass sie einmal die Welt um mich herum erkennen konnten und sahen jetzt gleichzeitig weit voraus. Auch die Ohren öffneten sich. Alle meine Sinne waren für einen Moment wieder im Einklang miteinander. Meine kleine Welt weitete sich und wurde unermesslich groß und wunderschön.

Und mit einem Mal hatte ich keine Angst mehr. Vor nichts und niemandem. Ich weiß jetzt, dass Jesus der ist, auf den die ganze Welt schon lange wartet. Er ist der Heiland. 

Gott kommt zu uns in einem Menschenkind, das völlig hilflos und in allem auf andere angewiesen ist?  Wie verrückt das tatsächlich klingt, verstehe ich immer wieder, wenn ich anderen von meiner Begegnung erzähle. Ich kann es auch nicht verstehen, aber ich weiß, dass es so ist.

Musste ich erst erkennen, wie hilflos ich selbst bin, um das Heil zu sehen? 

Ich habe seitdem einen anderen Blick auf mich und mein Leben. Ich vertraue mich Gott gänzlich an. Ich habe das Heil gesehen. Was bisher in meinem Leben Bruchstück geblieben ist, scheint sich zu einem Ganzen zu fügen. Was verletzt ist, wird geheilt. Möge Gottes Güte mich in dem, was jetzt kommt, begleiten. Ich fürchte mich nicht mehr.

Euch, denen ich von mir erzählt habe, wünsche ich Frieden. Alles, was gut ist und glücklich macht, komme über euch! Friede sei mit Euch und in der ganzen Welt! Und - so Gott will -  nächstes Jahr in Jerusalem!“ 

Euer Simeon