Dekanat Rodgau

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    Vom Recht auf Flucht

    ANgeDACHT für Mai 2023 von Pfarrerin Kornelia Kachunga, Evangelische Kirchengemeinde Obertshausen 

    »Darum prüft, was dem Herrn wohlgefällig ist.« 

    Brief des Apostels Paulus an die Epheser, Kapitel 5, Vers 20

    „Jeder Mensch hat das Recht zu fliehen“, so sagte neulich jemand zu mir. Dieser Satz erstaunte mich. Hat tatsächlich jeder Mensch das Recht zu fliehen?

    Der Mensch, der mir das sagte, kannte den Fluchtreflex nur zu gut. Er hatte selbst in einem Land gelebt, wo ein grausamer Bürgerkrieg herrschte. Er war als heranwachsender Junge Wege gelaufen, die mit Leichen übersät waren. Klar! Aus seiner Sicht, und aus der Sicht der 89,3 Millionen Flüchtlinge weltweit hat natürlich jeder Mensch das Recht, aus einer für ihn unerträglichen Lebenssituation zu fliehen, um sein eigenes Überleben zu sichern. Zu keiner Zeit waren weltweit so viele Menschen auf der Flucht wie heutzutage. 

    Meine Lebensgeschichte hat allerdings einen ganz anderen Satz in mir geprägt: „Wer glaubt, der flieht nicht!“ (Jesaja 28, 16) Darum hielt ich Flucht bisher immer für eine Schwäche. Diese Haltung haben meine Eltern mir vorgelebt, die mit ihrem Mut, ihrer Liebe und ihrem Glauben in eine schwierige Situation hineingegangen sind, weil sie wussten, sie nehmen diese Herausforderung nicht ohne Gottes Hilfe in Angriff. 

    Mein Vater blieb bewusst in der DDR, nachdem er drei Jahre als politischer Häftling unschuldig im Gefängnis gesessen hatte und sich danach zum Pfarramt berufen fühlte. Seine Verwandtschaft legte ihm allerdings nahe, die DDR zu verlassen. Er tat es nicht. Er blieb, anstatt zu fliehen. Meine Mutter floh zwar mit ihrer Familie kurz vor dem Mauerbau von Brandenburg nach Niedersachsen, aber als sie meinen Vater kennen und lieben lernte, entschied sie sich, zurück in die DDR zu gehen. Ein Schritt, von dem viele sie abhalten wollten. Ich bin froh, dass sie es nicht tat. Sie hat mir und meinen vier Geschwistern eine schöne Kindheit geschenkt, indem sie mir die Kraft vorgelebt hat, auch schwierige Situationen auszuhalten.

    Hat der Mensch nun das Recht zu fliehen und sein Leben zu retten oder sollte er die Kraft und Größe haben, auszuharren und auf ein gutes Ende zu vertrauen?

    Die Bibel kennt beides: Die Flucht als Zeichen der Schwäche – wie bei dem Propheten Jona. Aber auch die Flucht als Zeichen der Rettung und Bewahrung – wie bei Maria und Josef, die mit ihrem Neugeborenen nach Ägypten fliehen. 

    Auch wir erleben immer wieder Situationen im Leben, wo wir entscheiden müssen: Fliehen oder bleiben? Loslassen oder festhalten? Es kann dabei um eine belastende Ehesituation gehen, um die Pflege für einen nahen Angehörigen oder um den Zeitpunkt des eigenen Todes.

    Sie ahnen es, liebe Leserin, lieber Leser. Ob ein Mensch fliehen darf oder nicht, ob und wie lange er eine belastende Situation aushält oder nicht, liegt immer im Ermessen desjenigen, der sich in der jeweiligen Situation befindet. Unsere Aufgabe als Seelsorgerinnen und Seelsorger kann dann nur sein, gemeinsam mit dem Hilfesuchenden zu prüfen und herauszufinden, was für den jeweiligen Menschen in der jeweiligen Situation das Richtige ist. „Darum prüft, was dem Herrn wohlgefällig ist.“ (Epheser 5, 20) Manchmal bedarf es von außen dann der Ermutigung zum Bleiben und Durchhalten, manchmal aber eben auch der Ermutigung zum Gehen und Loslassen. In jedem Falle aber bedarf es eines offenen Herzens, das bereit ist, nach der befreienden Wahrheit zu suchen. Und es bedarf der Demut, sich nicht vorschnell einem Urteil hinzugeben, das den einen als Schwächling hinstellt und den anderen zum Helden stilisiert. 

    Ja, jeder Mensch hat das Recht zu fliehen, wenn für ihn seine Lebenssituation unerträglich wird und das eigene Leben bedroht ist. Und ebenso gilt: Wer Kraft und Grund hat, kann auch belastende und schwer zu ertragende Situationen aushalten in dem Wissen, dass er selbst von einem anderen, Größeren und Mächtigeren gehalten und hindurch getragen wird.

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