ALLE IM BLICK

„Einmal Schoko und Vanille, bitte.“ Eine kleine Hand schiebt sich über den hohen, gläsernen Tresen der Eisdiele, die abgezählten Münzen bereit zur Übergabe. „In der Waffel“, legt die zarte Stimme des Kindes in froher Erwartung des süßen Genusses nach. Kaum zu hören im Stimmengewirr, und leicht wäre der junge Kunde in der Menschenmenge zu übersehen gewesen.

Nicht so bei Angelo! Er hat sie alle im Blick. Angelo ist eine Institution in der Stadt, seine Eisdiele „Paradiso“ ein Treffpunkt für Jung und Alt. Angelo kennt seine Leute, er übersieht keinen, auch die ganz Kleinen nicht. Angelo hat nicht nur das beste Eis im Quartier, er hat auch stets ein offenes Ohr und ein gutes Wort für die Menschen, die zu ihm kommen.

Nur zu gut kenne ich Situationen, in denen ich mich wie das kleine, übersehene Kind an der Theke fühle. Immer wieder werden wir - anscheinend mehr oder weniger bewusst - übersehen im Leben. Von anderen außer Acht gelassen, überholt oder an die Seite gedrängt zu werden, hinterlässt kein gutes Gefühl. Mit den Jahren lernen die meisten, auch ungesehen auf sich aufmerksam zu machen, ihr Recht einzufordern und wahrgenommen zu werden. Viel schöner ist es jedoch, wenn ich mir Wahrnehmung und Wertschätzung nicht erst erkämpfen muss, sondern sie mir geschenkt werden.

Für Hagar, deren Geschichte uns im Buch Genesis im Rahmen der Erzählung von Abraham und Sara in der Bibel überliefert wird, war solch ein besonderer Moment gekommen, als der Engel Gottes ihr erschien und mit ihr sprach. Als Magd und Fremde hatte sie keinen hohen Stand im Leben. Und doch schien Gott Großes mit ihr vorzuhaben. Sie war an einem Wendepunkt angekommen. Ihr Herz, zwischen Hochmut und Erschöpfung zerrissen, hatte sie in die Wüste geführt. An einer Quelle machte sie Rast. Am Ort von neuem Leben inmitten tödlicher Umgebung, dem Ende nahe und doch einen Anfang in sich tragend, erschien ihr Gottes Bote. Hagar erkennt, dass Gott es tatsächlich gut mit ihr meint, und so spricht sie die Worte, welche uns 2023 als Jahreslosung begleiten werden:

„Du bist ein Gott, der mich sieht.“ (Genesis 16, 13)

Ich höre diese Worte einer mutigen Frau als tröstlichen Zuspruch auch für uns, als wunderbares Geschenk, welches allen Menschen gilt: Gott sieht mich an, er nimmt mich wahr – denn: Ich bin es ihm wert. Nicht am Rande übersehen, von Wichtigeren an die Seite gedrängt – nein: Ganz und gar im Mittelpunkt, geliebt so wie ich bin, stehe ich im Rampenlicht bei Gott.

Es ist für mich kein Blick von oben herab. Es ist der Blick meines Gottes, der mir auch in den Wüstenstunden des Lebens zur Seite steht, und der in Jesus Christus uns Menschen auf Augenhöhe begegnet, Tag für Tag, immer wieder neu. Es ist der Mensch gewordene Gott, der mich mit dem Blick der Liebe gnädig betrachtet.

Diese Erkenntnis stärkt mich im Glauben und gibt mir die Kraft, als Christ die Augen nicht zu verschließen vor Unrecht und Leiden in der Welt. Als geliebte und angesehene Kinder Gottes sind wir aufgerufen hinzuschauen, wahrzunehmen, die Stimme zu erheben und uns für unsere Nächsten voller Liebe einzusetzen – bei uns und in aller Welt.

Möge uns dies gelingen, in Zeiten, in denen wir vor so manchem viel lieber die Augen verschließen würden und vielleicht gerne einmal unsichtbar wären.

Möge Gottes Segen uns begleiten auf allen unseren Wegen in das neue Jahr hinein.

Mögen wir Gutes erwarten und auch empfangen können.

Möge Gottes frohe Botschaft unsere Herzen erfüllen, so dass auch wir voller Freude und Dankbarkeit sagen:

„Du bist ein Gott, der mich sieht.“