Mit Gott die Fasson verlieren
von Pfarrerin Leonie Krauß-Buck,
Evangelische Kirchengemeinde Seligenstadt und Mainhausen
Gott spricht: Sie werden weinend kommen, aber ich will sie trösten und leiten.
(Buch des Propheten Jeremia, Kapitel 31, Vers 9)
Liebe Leserin, lieber Leser,
das Jahr neigt sich dem Ende zu. Nur noch zwei Monate sind es im Jahr 2020, und das Kirchenjahr ist schon in vier Wochen beendet. Die Tage werden kürzer, es ist zu kalt um im Freien zu sitzen, und die Blätter fallen.
Gewöhnlich bin ich um diese Jahreszeit melancholisch, weil die langen Tage und lauen Nächte unleugbar der Vergangenheit angehören. Aber in diesem Jahr kann ich schon Anfang November kaum erwarten, dass das Jahr 2021 beginnt.
Es die naive Vorstellung, mit dem guten Rutsch in ein neues Jahr, würde alles „auf Anfang gesetzt“ werden können und könnten sich die letzten Monate als böser Traum erweisen.So, als könnte mit diesem Jahr auch alles beendet werden, was uns das Leben schwergemacht hat.
Eine naive Vorstellung. Die steigenden Infektionszahlen, die besorgten Debatten der letzten Wochen, machen ziemlich deutlich, dass die nächsten Wochen möglicherweise noch anstrengender sein werden als die im Frühling, und dass auch das neue Jahr noch keine Erleichterung der Situation versprechen kann.
Wir sind jetzt zwar etwas geübter im Bewältigen der Pandemie und ihrer Auswirkungen, aber, was auf uns zukommen wird, solange es noch keine Impfstoffe und bewährten Behandlungsmethoden gibt, können wir kaum abschätzen.
Gleichzeitig wartet der Alltag auf uns. Unser Lebensunterhalt will verdient werden, Familienangehörige und Freunde brauchen unsere Aufmerksamkeit und Fürsorge, wir müssen die Dinge des Lebens am Laufen halten, und zwischendrin wollen wir auch noch ab und zu spüren, dass das Leben schön sein kann, dass es Freude macht, in dieser Welt unterwegs zu sein.
In den letzten Monaten habe ich sehr deutlich meine Grenzen gespürt. Auch wenn es mir gesundheitlich gut geht und alles zu bewältigen war, was auf mich zugekommen ist, ich habe öfter als sonst meine Sorgen in Gottes Hand gelegt. Und in stillen Stunden auch meine Tränen zu Gott gebracht, also einfach losgeweint.
Meine Hilflosigkeit, meine Angst, die Sorge, dass alles um mich herum zusammenbrechen könnte, die ständige
Überforderung, das Gefühl, dass nichts mehr bleibt, wie es war…. Bei allem Gottvertrauen, wer wäre in diesen Zeiten nicht ab und an zumindest den Tränen nahe? Und würde nicht vor sich hin schimpfen wollen und schreien über all die Ungerechtigkeiten und die vielen Herzlosigkeiten, die einem in diesen Tagen zugemutet werden? Und die Gott nicht verhindert.
Und trotzdem ist Gott nicht fern. Oder - gerade deshalb ist Gott mir vielleicht sogar näher als sonst.
Weil ich ja Gott genauso entgegentrete, wie ich nun einmal bin, so mutlos und enttäuscht, so kraftlos und traurig und Gott mich genauso annimmt. Wie ein Freund, dem ich alles mitteilen kann, was mich aus der Bahn wirft, wie eine Freundin, die sich geduldig meinem Jammern und Klagen auch zum wiederholten Mal aussetzt und mich tröstet.
Wer es sich erlaubt, einmal so richtig aus der Fassung zu geraten und sein ganzes Leid, auch seinen Zorn, Gott entgegen zu schreien, kann wundersame Erfahrungen machen.
Nach dem Naseputzen und dem Kopfheben, öffnen sich ganz oft neue Perspektiven, der Hunger meldet sich wieder, vor allem der Hunger nach Leben.
Es wird etwas Aufregendes geschehen, das ist danach klar. Es wird neu und ungewohnt, aber bewegend sein, das weiß man in diesem Moment schon. Und man ist nicht allein. Gott tröstet und leitet, auch durch Menschen, die in seinem Namen trösten und leiten…
Der November bietet zahlreiche Gelegenheiten, die Fasson zu verlieren und angesammelte Tränen hinaus zu weinen, auch, voneinander begleitet, traurig zu sein.
Gott wird uns trösten, so seine Zusage- und wir werden mit Leben und Hoffnungen erfüllt in das neue Kirchenjahr gehen.
In dieser Hoffnung!
Ihre/Eure Leonie Krauß-Buck
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