"...wenn wir Gott unsere Hände und Münder leihen"
von Pfarrerin Sandra Scholz, regionale Pfarrstelle für Ökumene und Gesellschaftliche Verantwortung im Evangelischen Dekanat Dreieich-Rodgau
»Gott schafft Gerechtigkeit und Recht allen, die Unrecht leiden.«
Psalm 103, Vers 6
„I can speak!“ ist der markante Satz der alten koreanischen Frau Ok-Boon in dem gleichnamigen Film, der am 10. November im Viktoria-Theater Sprendlingen gezeigt wird. Ok-Boon ist es wichtig, nicht mehr länger zu schweigen, sondern über das Grauen der eigenen Jugend endlich zu reden und damit das Unrecht auszusprechen.
Sie steht für mich damit ganz in der Tradition der biblischen Prophet*innen und Psalmbeter*innen, die vor Gott schreien für ihr Recht.
Ok-Boon ist eine Filmfigur, aber sie repräsentiert die wirklichen Erfahrungen von mindestens 200.000 Mädchen ab 11 Jahren aus den ehemaligen Kolonien Japans, die während des Asien-Pazifik-Krieges (1937-1945) vom japanischen Militär verschleppt wurden. Betroffen waren Frauen aus Burma, China, Ost-Timor, Indonesien, Japan, Malaysia, den Niederlanden, Korea, Papua-Neuguinea, den Philippinen, Südkorea, Taiwan und Thailand. Manche Mädchen wurden mit falschen Versprechungen einer lukrativen Arbeit gelockt, andere wurden ihren Familien einfach geraubt. Sie alle endeten in den so genannten „Häusern des Trostes“ innerhalb der japanischen Militärcamps und wurden dort als Sexsklavinnen missbraucht. 20-30 Freier am Tag waren dabei keine Seltenheit.
Keine von denen, die überlebt hatten, sprach danach über ihre Erfahrungen. Die Scham verschloss ihnen den Mund. Erst im Jahr 1991 brach Kim Hak-Soon dieses Schweigen und machte im Fernsehen eine offizielle Zeugenaussage. Nach diesem Bruch mit dem Schweigen traten immer mehr Frauen öffentlich auf und forderten von Japan eine offizielle Entschuldigung und Entschädigung. Die Bewegung der sogenannten „Trostfrauen“ auf internationaler Ebene war damit geboren.
Das Zeichen dieser Bewegung ist die "Statue eines Friedensmädchens" des koreanischen Bildhauerpaares Kim Eun-sung und Kim Seo-kyung. Auf den ersten Blick ist es ein friedliches Bild. Ein koreanisches Mädchen sitzt im Hanbok, dem traditionellen koreanischen Gewand, auf einem Stuhl mit einem Vogel auf der Schulter und einem freien Platz neben sich.
Bei näherem Hinsehen jedoch lässt sich das Leid hinter der friedlichen Fassade erkennen: Die Haare des Mädchens sind unordentlich geschnitten und ungekämmt. Das junge Mädchen wirft einen Schatten auf die Bodenplatte – den einer alten Frau. Mitten im Schatten sitzt ein weißer Schmetterling, der für die Wiedergeburt steht. Er verweist darauf, dass viele der Opfer inzwischen verstorben sind, ohne je eine Entschuldigung für das erlittene Unrecht zu hören, denn die japanische Regierung hat dieses Unrecht bis heute nicht anerkannt. Die Fäuste des Mädchens sind geballt, entschlossen, nicht länger zu schweigen. Doch ihre Füße sind barfuß und ihre Fersen hängen in der Luft, als Zeichen dafür, dass die Frauen und Mädchen auch nach ihrer Rückkehr keinen Halt mehr fanden, keine Akzeptanz, kein Zuhause.
Der benachbarte Stuhl ist frei und lädt ein, sich Zeit zu nehmen, sich zu dem Mädchen zu setzen und sich damit an die Seite der Frauen zu stellen, denen bis heute ihr Recht verwehrt wird.
Die „Statue des Friedensmädchens“ steht inzwischen auch in Deutschland: in Frankfurt vor der koreanischen-evangelischen Kirchengemeinde Rhein-Main und seit vergangenem Jahr auch in Berlin-Moabit. Allein durch ihre Existenz sorgte die Berliner Statue für diplomatische Verstimmungen zwischen Deutschland und Japan, sodass sogar immer wieder überlegt wird, die Bronzestatue wieder zu entfernen.
„I can speak!“ Die Filmfigur Ok-Boon spricht diesen Satz mit einer großen Klarheit und Selbstsicherheit aus. Sie sagt damit: Es ist an der Zeit, das auszusprechen, was wahr ist. Und es ist wahr, dass an all den Frauen und Mädchen damals großes Unrecht begangen wurde. Es ist wahr, dass auch heute sexuelle Gewalt an Frauen und Mädchen international als systematische Kriegsstrategie eingesetzt wird. Noch immer werden diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit oft wenig oder gar nicht geahndet.
In der Bibel steht in Psalm 103:
„Gott schafft Gerechtigkeit und Recht allen, die Unrecht leiden.“
Die meisten der Opfer von damals sind verstorben, ohne dass ihnen Gerechtigkeit zuteilwurde. Auch viele aus Kriegsgebieten geflüchtete Frauen und Mädchen heute hier in unserem Land teilen die Leidenserfahrung sexualisierter Gewalt. Auch heute sprechen wenige darüber.
Ich glaube, Gott kann den Menschen nur Recht schaffen, wenn wir Gott unsere Hände und Münder leihen. Manche tun das, indem sie sich einsetzen für den Erhalt der Statue in Berlin-Moabit, andere, indem sie sich einsetzen für ein Gesetz, das Familiennachzug anerkannter geflüchteter Menschen beschleunigt und erleichtert. Wieder andere sorgen für die Unterstützung von Menschen, die missbraucht und verletzt wurden. Auf dass wir alle sagen können: „I can speak!“
Diese Seite:Download PDFTeilenDrucken