Versöhnung geht nur ohne Trennung
von Pfarrer Martin Franke, Evangelische Kirchengemeinde Seligenstadt und Mainhausen
„Der Herr ist der Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.“
(2. Brief an die Korinther, Kapitel 3, Vers 17)
Noch heute höre ich den Refrain: „So sind die Zuständ‘, ihr kennt sie ja, drum kauft keine Früchte aus Südafrika.“ Es war 1987 in Frankfurt am Main: mein erster Kirchentag. Die Messehallen und die Innenstadt quollen über vor fröhlichen und oft singenden Menschen – mein Herz auch. Vor allem Frauengruppen hatten dafür gesorgt, dass das Thema Apartheid nicht hintenan gestellt wurde. Wer Ohren hatte, konnte die Proteste gegen eine wirtschaftliche Unterstützung der Unterdrückung von Schwarzen nicht überhören. Wir nutzten unsere Freiheitsrechte, Petitionen und Demonstrationen, an den großen Bankhäusern vorbei, um für die Freiheit von anderen einzutreten.
Nicht wahrgenommen habe ich damals das Belhar-Bekenntnis: Schon im Oktober 1986 (heute vor 30 Jahren) hatte die Niederländisch-Reformierte Missionskirche nach vierjähriger Diskussion dieses bahnbrechende Bekenntnis beschlossen. In Belhar, einem Vorort von Kapstadt, sprachen und unterzeichneten sie lange Sätze, welche auf die Abschaffung von Ausgrenzung und Diskriminierung drängten:
Die christliche Botschaft wird unglaubwürdig „und ihre segensvolle Wirkung verhindert, wenn sie in einem Land verkündigt wird, (…) in dem die erzwungene Trennung der Menschen aus rassischen Gründen gegenseitige Entfremdung, Hass und Feindschaft fördert und immer weiter fortsetzt; (…)
Wir verwerfen darum jede Lehre, die im Namen des Evangeliums oder des Willens Gottes die erzwungene Trennung von Menschen nach Rasse oder Hautfarbe gutheißt und dadurch von vornherein den Zuspruch und die Erfahrung der Versöhnung in Christus abschwächt und verhindert."
Versöhnung in Christus, die Friedensbotschaft des Mannes aus Nazareth weitertragen – wie könnte das ohne Aufhebung von Trennungen gehen? Wie ohne gesunde Neugier auf Fremde und Fremdes? Auf das, womit alle Religionen angefangen haben: Gastfreundschaft, das Hören der fremden (Lebens-)Geschichten und das Neuerzählen der eigenen. Das Bekenntnis von Belhar hat zur offiziellen Abschaffung der Apartheid beigetragen, ebenso wie die Solidarität aus dem Ausland: Zwischen 1990 und 1994 wurden die Apartheid-Gesetze in Südafrika abgeschafft.
Für Paulus wäre dieses Bekenntnis ein Akt der Freiheit gewesen – des Aufbruchs aus dem, was gesellschaftlich gerade vorgegeben ist und dem Denken in neuen Bildern, wie unwahrscheinlich sie auch gerade scheinen:
Der Herr ist der Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit. (2.Korinther 3,17)
Jesus Christus, der Gestorbene und Auferstandene, lebt vor allem in unserer Begeisterung weiter, in unseren Aufbrüchen, dort, wo wir uns von seinem Mut, Trennungen zu überwinden, anstecken lassen. Deshalb ist der Herr Geist, wie Paulus es ausdrückt. Und wo das geschieht, da ist Freiheit: Freiheit auch anders zu handeln, als es gesellschaftlichen Erwartungen entspricht.
Vielleicht war Paulus so etwas wie der „diversity-manager“ des frühen Christentums – ein Beauftragter für Interkulturalität und Verständigung. In fast allen seinen Briefen spielen Konflikte zwischen unterschiedlichen Volksgruppen und Kulturen eine Rolle. Und Paulus ist derjenige im Neuen Testament, der diese Konflikte weder harmonisiert noch verschweigt, sondern offen anspricht. Er sieht die Chance, Trennungen und Differenzen zu überwinden, indem wir nicht mehr auf die Unterschiede schauen, sondern auf die Verbindung in Christus:
„Es spielt keine Rolle mehr, ob ihr Juden seid oder Griechen, Sklaven oder freie Menschen, Männer oder Frauen. Denn durch eure Verbindung mit Jesus Christus seid ihr alle wie ein Mensch geworden.“ (Galater 3,28 in der Übersetzung der Basisbibel)
Das wäre Freiheit, nicht mehr auf die Verschiedenheit zu schauen, sondern auf eine vorgegebene Einheit: Alle gehören zum Menschengeschlecht, alle leben auf dieser Erde, für alle hat Christus gezeigt, dass Gott sie liebt.
Bei anerkannten Flüchtlingen erleben wir gerade, dass Syrerinnen und Syrer mit ihrer hellen Hautfarbe weit bessere Chancen auf eine privat vermittelte Wohnung haben als die dunkelhäutigeren Eritreer. Und dass, obwohl viele von ihnen Christinnen und Christen sind. Viele kennen wir schon lange durch die orthodoxen Gottesdienste in Tigrinya, mit denen sie Gäste unserer Kirchengemeinden sind.
Der erste Schritt, Trennungen zu überwinden, ist die Bilder in meinem Kopf zu entdecken, die automatisch zuordnen und ausgrenzen. Das ist vielleicht auch der schwierigste Schritt. Zu sehr bin ich gewohnt, Menschen in Schubladen einzuteilen, mit meiner erlernten Menschenkenntnis.
Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.
Der Mut für den zweiten Schritt, nämlich die Begegnung mit noch Fremden, erfordert die Geborgenheit und Sicherheit einer Gemeinschaft, die mich trägt und annimmt, so wie ich bin: als Mann, als Frau, als Kind oder Altgeworden, mit heller oder dunklerer Hautfarbe, mit guten oder weniger guten Deutschkenntnissen, als trans-, homo-, bi- oder heterosexuell, mit gerade großem Vertrauen oder in Glaubenszweifeln.
Für Paulus können christliche Gemeinden eine solche Gemeinschaft sein, gerade weil sie über die persönliche Familie und Herkunft hinausreichen. Gemeinschaften, in denen wir Mut und Zeit gewinnen für die Geschichten der anderen. Wir brauchen uns, wir brauchen einander, um zu wachsen – und Mut zu gewinnen für die Freiheit, die uns zugemutet ist.
Denn wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.
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