Auch die Kehrseite annehmen
von Pfarrerin Heike Zick-Kuchinke, Evangelische Kirchengemeinde Steinheim am Main
Tausende von Menschen nehmen ihr Schicksal in die Hand: Sie brechen auf aus der Hoffnungslosigkeit – trotz hohem Risiko, Schlimmeres zu erleben, gar ihr Leben zu verlieren. Sie wollen nicht länger mehr nur Opfer sein – Opfer unterschiedlicher Machtinteressen, Wirtschaftssysteme, von Krieg und Gewalt.
Und nicht länger sind es nur die Söhne oder Väter. Seit Wochen sind es auch Familien mit Kindern jeden Alters. Auch Verwundete, Kranke und Alte werden – gleich, in welchem Zu-stand sie sich befinden – nicht mehr zurückgelassen.
Sie kommen nach Europa, nach Deutschland, wo auch immer sie bereits Kontakte haben. Oder hoffen, Schutz zu finden und eine Zukunft für sich und für ihre Kinder. Sie lassen sich scheinbar durch nichts und niemand mehr aufhalten, und die Reaktionen in den europäischen Staaten fallen so unterschiedlich aus, wie sie nur sein können: auf der einen Seite ein herzliches Willkommen, auf der anderen Seite heftigste Ablehnung. Beides gibt es und kann nicht verleugnet werden, ebenso wenig wie die vielen Tausende Flüchtlinge.
Nur ein herzliches Willkommen wird auf die Dauer nicht ausreichen: Es braucht klare Regelungen und Richtlinien, es braucht ein Einwanderungsgesetz und den Willen aller zur Befriedung. Die Strategie der Abschreckung wird die Spirale der Gewalt nur weiter in die Höhe treiben, in den Krisengebieten der Welt, aber eben auch immer mehr hier in Europa. Beides wird zu keiner Lösung führen, nimmt man nicht die guten wie auch die schwierigen Seiten der je anderen Position an und sucht nach gemeinsamen Lösungen.
Der Monatsspruch für den Monat Oktober weist darauf hin, wenn es dort heißt: „Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen?“ (Hiob 2,10). Es ist die Antwort auf Hiobs klagende Frau, die ihn nach erneuter schwerer Prüfung durch Krankheit fragt, ob er jetzt noch immer an seiner Frömmigkeit festhalten wolle. Sie empfiehlt ihm, sich von Gott loszusagen und zu sterben.
Doch Hiob nimmt nicht nur die gute Seite des Lebens aus Gottes Hand an, sondern eben auch die Kehrseite. Dietrich Bonhoeffer hat dies in nicht minder schweren Zeiten so bekannt: „Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen. Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein.“ (Dietrich Bonhoeffer, Einige Glaubenssätze über das Walten Gottes in der Geschichte, in: Widerstand und Ergebung, Prolog)
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